Ein Fest der Liebe – Nacht der Wunder
“Und es verträgt sich nicht mit dem Whiskey, den Sie da runterschütten. Ich würde mich an Ihrer Stelle etwas zurückhalten.”
Whitley sah aus wie ein hübsches, schmollendes Kind. Was habe ich nur je in ihm gesehen, fragte sich Lizzie. Wo war der umwerfende Charme geblieben, den er in San Francisco ausgestrahlt hatte, wenn er seinen Namen bei jedem Fest auf ihre Tanzkarte eintrug, poetische Liebesbriefe schickte und Blumen?
“Wollen Sie ihn nicht untersuchen?”, fragte Lizzie und dachte an ihre frühere Überzeugung, dass sie beide sich nach ihrer Hochzeit in Indian Rock niederlassen würden, damit sie dort unterrichten und immer in der Nähe ihrer Familie sein konnte. Es schien Whitley nichts auszumachen, so weit entfernt von seinen eigenen Verwandten zu leben. Doch nun erst erkannte sie, dass er sich nie darauf oder auf überhaupt irgendetwas festgelegt hatte. “Er könnte wirklich verletzt sein, wissen Sie.”
“Ihm geht’s gut”, entgegnete Dr. Shane kurz. Dann lief er mit seiner Tasche den Gang entlang Richtung Lokomotive.
“Was für ein Arzt ist der überhaupt?”, grummelte Whitley.
“Einer, der viel zu tun hat, vermute ich”, antwortete Lizzie. Dabei sah sie jedoch nicht zu ihm, sondern auf die Tür, durch die Dr. Shane gerade verschwunden war. Sie wusste, dass der Waggon vor ihnen leer war und sich daran die Lokomotive anschloss. Seit der Lawine hatten sie kein Lebenszeichen vom Schaffner bemerkt. Wäre er nicht sofort in den einzigen besetzten Waggon geeilt, um zu sehen, ob es Verletzte gab, wenn er gekonnt hätte? Und was war mit dem Lokomotivführer?
Voller Sorge beschloss sie, Dr. Shane zu folgen. Sie musste einfach wissen, wie schlimm die Situation wirklich war. Gerade wollte sie Whitley das Baby in den Arm drücken, als der zurückzuckte, als ob sie ihm eine zischende Klapperschlange hinhalten würde.
Ungehalten brachte Lizzie das Kind zurück zu Mrs. Halifax, legte es ihr behutsam in den Schoß und wickelte dann den Quilt wieder fest um sie. Der Vertreter und der Soldat saßen jetzt beieinander und spielten irgendein Kartenspiel auf dem Kofferdeckel. Der ältere Herr überließ Woodrow der Obhut seiner Frau und stand auf. “Gibt es etwas, das ich tun kann?”, fragte er niemand Bestimmtes.
Lizzie antwortete nicht, sondern warf dem alten Mann nur ein dankbares Lächeln zu und eilte auf die Lokomotive zu.
“Wohin gehst du?”, fragte Whitley mürrisch, als sie an ihm vorbeikam.
Aber sie machte sich nicht die Mühe zu antworten.
Ein kalter Wind schnitt in ihre Haut, als sie aus dem Waggon trat. Der Schnee fiel jetzt noch heftiger und legte sich bedrohlich über das Dach des Zugs – wie ein Baldachin. Der Waggon vor ihrem lag auf der Seite. Die schwere Eisenkuppplung, die ihn einmal mit dem zweiten Waggon verbunden hatte, war in zwei glatte Teile zerbrochen.
Kurz dachte Lizzie daran umzukehren, doch das verzweifelte Bedürfnis, das wahre Ausmaß des Unglücks zu erfahren, war größer als jede Vorsicht. Behutsam kletterte sie über die eisbedeckte kleine Leiter nach unten und bückte sich, um in den umgefallenen Waggon zu schauen.
Die Sitze, die seitlich aus den Wänden ragten, boten einen schauerlichen Anblick. Sie stieß ein leises Dankgebet aus, dass niemand in diesem Teil des Zugs gesessen hatte, und kroch hinein. Drinnen zog sie sich an einer offenen Gepäckablage hoch und ging durch den Waggon, indem sie von einem Sitz auf den nächsten trat.
Als sie die Tür erreichte, machte sie sich bereit, erneut auf den Boden zu klettern, um danach in die Lokomotive zu steigen.
Die Lokomotive stand jedoch aufrecht, und der Schnee lag so dicht zwischen den beiden Wagen, dass sie darüber gehen konnte. Lizzie kletterte in den Maschinenraum.
Dampf zischte aus einem zerstörten Kessel.
Der Schaffner lag auf dem Boden, der Lokomotivführer neben ihm.
Bei ihnen kniete Dr. Shane und blickte mit so einem bestürzten Gesicht zu Lizzie auf, dass sie gelacht hätte, wenn die Situation nicht so schrecklich gewesen wäre.
“Sie sagten doch, dass Sie vielleicht meine Hilfe brauchen”, erklärte sie.
So wie der Arzt aussah, wusste Lizzie sofort, dass die beiden Männer auf dem Boden der Lokomotive entweder tot oder tödlich verletzt waren.
Tränen brannten in ihren Augen, als sie sich deren Familien vorstellte, die gerade das Weihnachtsfest vorbereiteten, ohne zu ahnen, dass die sehnsüchtig erwarteten Menschen niemals zurückkehren würden.
“Es ging schnell”, sagte Dr. Shane, der
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