Gier
Operation Glencoe
London, 2. April
Eigentlich kann es nicht noch kälter werden, denkt der Beobachter und zieht den Mantel eng um seinen Körper. Kälter als an den frostigen Tagen Anfang April kann es in London nicht werden.
Dieses Grau, denkt er und blickt die Themse hinunter in Richtung des Betonklotzes. Er heiÃt ExCeL, Exhibition Centre London, und in ihm wird in ebendiesem Moment der London Summit eröffnet, auf dem die Staatsoberhäupter der zwanzig reichsten Länder der Welt über die verheerende Finanzkrise diskutieren werden. Es ist das Gipfeltreffen der G20-Staaten.
Dieses unendlich feuchtkalte Grau. Und zu allem Ãbel noch dieses Warten. »Operation Glencoe«. Bei diesem Wort spürt er deutlich, dass ihn noch eine völlig andere Kälte erfasste. Ein Luftstrom, der nicht von auÃen zu kommen scheint, sondern aus der Tiefe der Geschichte.
Ausgehend von diesem Wort, über das er so lange nachgegrübelt hat.
Glencoe.
So hieà ein kleines Dorf in den schottischen Highlands, das an einem eisigen Februarmorgen im Jahr 1692 Schauplatz eines grausamen Massakers wurde. Wilhelm I. von Oranien hatte nach dem Sieg über die Katholiken unter König Jakob beschlossen, ein Exempel gegen Unruhestifter zu statuieren. Und so lieà er hundertzwanzig Mann in dem nichts ahnenden kleinen Glencoe einquartieren. Die Dorfbevölkerung nahm die Soldaten gastfreundlich auf.
In den frühen Morgenstunden des 13. Februar wurden achtunddreiÃig Männer in ihren Betten abgeschlachtet. Sämtliche Häuser wurden niedergebrannt, und vierzig Frauen und Kinder erfroren in der eisigen Kälte des winterlichen Tals. Es wären noch bedeutend mehr gewesen, wenn sich nicht einige Soldaten geweigert hätten, dem Befehl nachzukommen.
Warum zum Teufel benennt man den Sicherheitseinsatz bei einem Gipfeltreffen, das zum Ziel hat, die angeschlagene kapitalistische Wirtschaft zu retten, nach einem dreihundert Jahre zurückliegenden, auÃerordentlich heimtückischen Massaker in den Ausläufern der schottischen Highlands?
Der Beobachter von Europol, der europäischen Polizeibehörde, spürt, wie ihm der eisige Februarwind von damals durch Mark und Bein fährt. Es ist der Wind der Vorzeichen, der Wind des Vertrauensbruchs, der Wind des Verrats. Der Wind hinterlässt seine Spuren in ihm. Doch nun nimmt er seine Arbeit als Beobachter wieder auf. Vor ihm liegen die unendlichen Bürokomplexe der London Docklands. Von dem schottischen Tal ist nur der Name in Erinnerung geblieben.
Glencoe.
Und der Codename von Scotland Yard für den groà angelegten Polizeieinsatz in London während dieser Tage Anfang April lautet »Operation Glencoe«.
Der Beobachter von Europol agiert während dieser Tage allerdings nicht als Ermittler. Er soll nur wachsam sein.
Mir ist es in der Tat gelungen, die Gegenwart ziemlich intensiv in Augenschein zu nehmen, denkt er und zieht den Mantel noch etwas enger um seinen Körper. Vor allem aber hat er das gegenwärtige Geschehen rund um den Sicherheitsgipfel im Internet verfolgt. Vielleicht ist das Internet inzwischen ja die Gegenwart, überlegt der Beobachter. Mangels aktiverer Betätigungsfelder hat er die Protesteinträge gegen das Treffen und die überwältigende Zahl von Demonstrationsaufrufen durchforstet, die Aktivisten verschiedenster Gruppierungen, von Umweltorganisationen bis hin zu mehr oder weniger kampfbereiten antikapitalistischen Fraktionen, ins Netz gestellt hatten. Eine für ihn interessante Neuigkeit bestand in der Entdeckung, dass die Koordination der Aktionen über Twitter stattfinden sollte. Das bedeutete beispielsweise, dass man in der Lage war, choreografisch genau abgestimmte Protestzüge zu veranstalten wie den der sozialistischen Organisation »G-20 Meltdown« am »Financial Foolâs Day«. Am 1. April.
Das war gestern. Er ist dort gewesen, direkt gegenüber des gigantischen Palastes der Bank of England in der Threadneedle Street. Sie kamen aus vier verschiedenen Richtungen, vier wurmähnliche Züge in unterschiedlichen Farben, die sich durch die Stadt wanden, angeführt von vier mit Stoffkleidern ausstaffierten Holzpuppen, die vier Reiter der Apokalypse aus dem Buch der Offenbarung. Während sich die Reiter mit ihrem Gefolge näherten â das rote Kriegsross von oben aus der Moorgate, das grüne Ross des Klimawandels von der Liverpool Street
Weitere Kostenlose Bücher