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0858 - Missgeburt

0858 - Missgeburt

Titel: 0858 - Missgeburt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Montillon
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So vieles war in der letzten Zeit geschehen. Zu viel, beinahe. Im wahrsten Sinn des Wortes hatten Welten aufgehört zu existieren. Immer noch fragte sich Zamorra, ob es keine Möglichkeit gegeben hätte, die völlige Zerstörung aller Spiegelwelten zu verhindern. Sicher, wenn er sich erst gar nicht mit den dreizehn Siegeln des verhängnisvollen Buches befasst hätte, das nun endlich vernichtet war… Dann Armakath mit seinen Rätseln… die Skeletthorden von Rio, die Werwölfe in Lyon und viele andere Ereignisse. Er hatte gehofft, nach dem Weltensterben ein wenig zur Ruhe zu kommen. Aber diese Ruhe gab es nicht.
    »Grübelst du schon wieder?« Nicole Duval griff an Professor Zamorra vorbei, packte eine Seite des alten Buches und schlug es geräuschvoll zu.
    »Ich? Grübeln?« Zamorra gab sich entrüstet, bedachte den alten, in Leder gebundenen Folianten mit einem raschen Seitenblick und verkniff sich jeden Gedanken daran, dass Nicole seiner Meinung nach durchaus etwas vorsichtiger sein könnte, wenn sie mit antiquarischen Objekten von hohem Wert umging. »Ich grüble nie! Kennst du mich so schlecht? Mein tadelloser, überaus edler Charakter zeichnet sich gerade durch eine besonders frohgemute Grundstimmung aus, die ich mir durch nichts vermiesen lasse. Außerdem bin ich…«
    »Der größte Übertreiber diesseits des Mississippis.«
    »Was ist denn das für eine Redewendung?«, fragte der Parapsychologe verblüfft, drehte seinen Bürostuhl und packte Nicole um die Hüften. Er zog sie an sich, dass ihr keine andere Wahl blieb, als sich auf seine Knie zu setzen. Auf eine Antwort wartete er nicht, sondern behauptete: »Vielleicht neige ich tatsächlich zu Übertreibungen, aber das ist nicht meine einzige herausragende Qualität. Ich bin auch noch…«
    Wieder ließ sie ihn nicht ausreden. »Der beste Liebhaber von ganz Frankreich?«
    Zamorra gab einen brummenden Ton von sich. »Von ganz Europa! Wenn nicht gar der ganzen Welt!«
    »Ich wage kaum, dir zu widersprechen. Aber ich halte die Bibliothek nicht für den geeignetsten Ort, dieses Gespräch fortzuführen, das - wollen wir uns nichts vormachen - damit enden wird, dass du mir die Kleider vom Leib reißt und…«
    Dies war wohl nicht die Zeit, die es den beiden Dämonenjägern gönnte, ihre Sätze zu Ende zu sprechen. Die Visofonanlage schlug an, Nicole nahm das eingehende Gespräch beiläufig an, und was sie zu hören bekamen, vertrieb augenblicklich den Schalk und jeden Gedanken an ein aufregendes Liebesspiel.
    Butler William teilte ihnen mit: »Sie haben Besuch. Im wahrsten Sinn des Wortes Überraschungsbesuch. «
    ***
    Er war kaum wiederzuerkennen. Die blonden Haare zeigten sich schütter und weitgehend ergraut; große Geheimratsecken zogen sich von der Stirn weit in die Höhe. Die breiten Schultern hingen herab, der Mund stand halb offen, umgeben von feinen Fältchen, die sich in die ungesund blasse Haut gegraben hatten. Der Blick der eisgrauen Augen wirkte trüb, das Weiße war gelblich verfärbt.
    »Andrew«, sagte Zamorra unwillkürlich mitleidig, als er das hinfällige Geschöpf im Besucherraum von Château Montagne erblickte.
    »Nicht… Andrew.« Die Stimme krächzte. Jede Silbe schien dem Besucher unendliche Mühe zu bereiten. »Auch wenn ich mir von Herzen wünschte, es wäre so.«
    Zamorra ballte unwillkürlich die Hände. Die Emotionen wollten ihn schier überwältigen. Erinnerungen kamen in ihm hoch. Sehr viele Erinnerungen. Vielleicht zu viele, und sie waren keineswegs nur positiv. »Wie könnte ich vergessen, dass du nicht Andrew bist… nicht nur. Aber dein Anblick nach all den Wochen, die inzwischen vergangen sind…«
    »Ich weiß«, unterbrach der Besucher. »Ich sehe nicht so aus wie ein vor Kraft und gewaltigem magischen Potential strotzendes Wesen, das jeder in der Hölle und auf anderen Welten kennt, dessen Entwicklung von tausend Seiten argwöhnisch beobachtet wird.«
    Er erhob sich mühsam, stützte sich mit der Rechten auf die Lehne des bequemen schwarzen Ledersessels. »Nicht wie der Zwitter, dem offenbar keine Grenzen gesetzt sind.« Er lachte leise und ohne das geringste Fünkchen Humor. »Es gibt eben doch Grenzen. Für jeden.« Und nach einer kaum wahrnehmbaren Pause: »Sogar für mich.«
    Erschrocken sah Zamorra, dass die Knie des Zwitters zitterten. Die Hände waren dürr, seine ganze Gestalt ausgemergelt. Die Kleidung - ein graues Hemd, ausgebleichte schwarze Jeans - schlotterte um den Körper.
    Zamorras Gedanken fuhren Karussell.

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