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Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Grimbert
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Eltern. Einmal in der Woche spritzte sie mir Vitamine oder pflanzte mich auf den Stuhl vor das Inhalationsgerät: Über zwei Schläuche bekam ich Aerosol in meine Nasenlöcher gesprüht, während ich, in Gedanken versunken und vom Surren des Geräts eingeschläfert, reglos dasaß.

    Louise hatte die Sechzig überschritten, in ihrem Gesicht zeichneten sich die Spuren vom Trinken und Rauchen ab, der übermäßige Genuß hatte Tränensäcke unter ihren Augen hinterlassen, ihre bleiche Haut schwamm auf ihrem verwüsteten Gesicht. Nur ihre aus den Blusenärmeln ragenden, tatkräftigen Hände schienen ein Knochengerüst zu haben: zwei herrische Hände mit langen Fingern und kurzgeschnittenen Nägeln, die sich beim Sprechen öffneten und dem, was sie sagte, Geltung verschafften. Ich war gern bei ihr und quetschte mich so oft wie möglich durch den engen, mit Kartonszugestellten Flur, um sie zu besuchen. Ich verbrachte mehr Zeit bei ihr als bei uns, denn bei ihr konnte ich frei sprechen. Ich fühlte mich ihr nahe, zweifellos wegen ihrer Mißgestalt: Ihren humpelnden Gang verdankte sie einem Klumpfuß, der in einem orthopädischen Schuh steckte, ein Klotz aus schwarzem Leder, den sie immer hinter sich herzog. Ihre unsichere Gestalt, die zwischen den Wänden des Flurs hin und her schwankte, paßte zu ihrem Gesicht, ein Sack aus Haut, der von keinem Gerüst gestützt wurde. Ihrer Veranlagung zu rheumatischen Schüben zum Trotz fegte Louise den dumpfen Schmerz, den die entzündeten Gelenke ihr bereiteten, mit einer zornigen Handbewegung weg. Ich verstand die Gründe für diese Handbewegung: Sie haßte ihr Aussehen.
    Ich war von diesem skelettlosen Körper fasziniert, dem unsere Körper auf eine so intime Weise vertraut waren: die meiner Eltern, wenn sie sich erschöpft auf ihrem Massagetisch ausstreckten, und meiner, wenn ich ihr meinen Hintern entgegenstreckte, damit sie mir eines dieser wachstumsfördernden Mittel spritzte.

Louise behauptete, meine Eltern seit der Eröffnung ihres Geschäfts in der Rue du Bourg-l’Abbé zu kennen. Sie sprach in den höchsten Tönen von der Schönheit meiner Mutter, der Eleganz meines Vaters, und wenn sie ihre Namen aussprach, ging ein Zucken durch sie.
    Wir hatten unsere Rituale. Bei jedem meiner Besuche bereitete sie mir auf dem Rechaud, auf dem sie die Nadeln ihrer Spritzen auskochte, eine heiße Schokolade zu. Ich trank sie mit kleinen Schlucken, und Louise leistete mir mit einem Glas bernsteinfarbenen Likör Gesellschaft, den sie in ihrem Arzneischrank versteckte. Neugierig stellte ich ihr Fragen, die ich mir bei meinen Eltern nie erlaubt hätte. Sie machte kein Geheimnis aus ihrem Leben, es spielte sich hier ab, in dieser dunklen Praxis, Tag für Tag kümmerte sie sich um ihre Stammkunden und hörte ihnen zu. Alles andere war uninteressant: Sie wohnte in dem Haus, in dem sie geboren und aufgewachsen war. Ihr Horizont beschränkte sich auf die beiden Praxisräume und das von einem kleinen Garten umgebene Kalksteinhaus am Stadtrand. Seit dem Tod ihres Vaters pflegte sie dort ihre Mutter, wiederholte abends für die gebrechliche alte Frau dieselben Verrichtungen, die tagsüber in ihrer Praxis anfielen.

    An bestimmten, für Bekenntnisse günstigen Tagen erzählte Louise von der Kindheit eines hinkenden Mädchens, das verspottet wurde und im Schatten ihrer beweglicheren Kameradinnen stand. Darin konnte ich mich wiedererkennen. Ich hätte gern mehr darübererfahren, doch wie jedesmal, wenn sie ein schmerzhaftes Thema anschnitt, beendete sie es sehr schnell mit jener Handbewegung, die den Schmerz vertreiben sollte: Sie fegte mit der Hand durch die Luft und blickte mir in Erwartung dessen, was ich von mir erzählen würde, fragend in die Augen. Dann konnte ich mich gehenlassen und ihr von meinen Träumen berichten. Mit Seufzern, die in den Rauchschwaden ihrer Zigarette Gestalt annahmen, unterstrich sie meine Worte.
    Seit vielen Jahren hörte sie meinen Eltern mit derselben Aufmerksamkeit zu, während ihre Hände sie kräftig massierten und alle Sorgen von ihnen nahmen. Außer ihrer Müdigkeit ließen sie auch ihre Geheimnisse bei Louise.

II

Lange Zeit war ich ein kleiner Junge, der sich eine ideale Familie zusammenträumte. Ausgehend von den wenigen Bildern, auf die mir meine Eltern einen kurzen Blick gestatteten, stellte ich mir vor, wie sie sich kennengelernt haben. Ein paar Worte, die sie über ihre Kindheit verloren, Bruchstücke aus ihrer Jugend, über ihre Liebesgeschichte, das waren

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