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Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Grimbert
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um endlich wieder zu meinen Heften zu kommen. Ich hatte mir einen siegreichen Bruder ausgesucht. Niemand konnte ihn übertreffen, er gewann in allen Disziplinen, während ich meinem Vater meine Schwäche zeigte und die Enttäuschung ignorierte, die in seinem Blick lag.

Meine innig geliebten Eltern: Jeder Muskel an ihnen glänzte wie die Statuen, die mich in den Gängen des Louvre betörten. Meine Mutter machte Turmspringen und Bodenturnen, mein Vater Ringen und Geräteturnen, beide spielten Tennis und Volleyball. Zwei Körper, die wie dazu geschaffen waren, sich zu begegnen, zu vermählen, fortzupflanzen.
    Ich war die Frucht dieser Sportlichkeit, aber mit einer morbiden Freude pflanzte ich mich vor dem Spiegel auf, um meine Mängel aufzulisten: spitze Knie, ein hervorspringendes Becken, spindeldürre Arme. Und ich regte mich über das Loch unter meinem Solarplexus auf, in das eine Faust hineingepaßt hätte, das meinen Brustkorb aushöhlte, als hätte ein Schlag ihn für immer eingedrückt.

    Arztpraxen, Ambulanzen, Krankenhäuser. Der Desinfektionsmittelgeruch überlagerte kaum den des beißenden Angstschweißes, eine verderbliche Atmosphäre, zu der ich mein Scherflein beitrug, indem ich unter dem Stethoskop hustete, meinen Arm für die Spritze freimachte. Jede Woche ging meine Mutter mit mir zu einer dieser mir schon vertrauten Untersuchungen, half mir beim Ausziehen, um mich mit meinen Symptomen einem Spezialisten zu überlassen, der sich anschließend zu einem leisen Zwiegespräch mit ihr zurückzog. Gefaßt saß ich auf dem Untersuchungstisch und wartete auf das Urteil: ein Eingriff in nächster Zeit, eine langwierige Behandlung, bestenfalls Vitamine oderInhalationen. Ich habe Jahre mit der Behandlung dieser schwächlichen Anatomie verbracht. Unterdessen protzte mein Bruder auf unverschämte Weise mit seinen breiten Schultern, der sonnengebräunten Haut unter seinem blonden Flaum.

    Reck, Trainingsbank, Sprossenleiter, mein Vater trainierte täglich in einem Zimmer unserer Wohnung, das er in einen Turnraum umgewandelt hatte. Auch wenn meine Mutter weniger Zeit dort zubrachte, machte sie doch ihre Aufwärmübungen, lauerte auf die geringste Erschlaffung, um ihr sofort entgegenzuwirken.

    Beide führten zusammen einen Großhandel in der Rue du Bourg-l’Abbé, in jenem Karree eines der ältesten Stadtviertel von Paris, das dem Handel mit Trikotagen und Strickwaren vorbehalten war. Die meisten Sportbekleidungsgeschäfte ließen sich von ihnen mit Trikots, Turnanzügen und Sportunterwäsche beliefern. Ich setzte mich an die Kasse neben meine Mutter, um die Kunden zu begrüßen. Manchmal half ich meinem Vater, trippelte ihm hinterher in das eine oder andere Lager, sah zu, wie er mühelos Stapel von Kartons anhob, die mit Sportfotos geschmückt waren: Turner an den Ringen, Schwimmerinnen, Speerwerfer, die sich in den Warenregalen auftürmten. Die Männer trugen das leicht gewellte, kurze Haar meines Vaters, die Frauen hatten die dunkle, wallende und von einem Band gebändigte Haarpracht meiner Mutter.

Einige Zeit nach meiner Entdeckung in der Abstellkammer hatte ich darauf gedrungen, noch einmal in das ehemalige Dienstmädchenzimmer hinaufzugehen, und dieses Mal konnte mich meine Mutter nicht davon abhalten, den kleinen Hund mitzunehmen. Noch am selben Abend setzte ich ihn auf mein Bett.
    Wenn ich mit meinem Bruder Streit hatte, flüchtete ich mich zu meinem neuen Freund, Sim. Wie war ich eigentlich auf seinen Namen gekommen? War es der staubige Geruch des Plüschs? Lag es am Schweigen meiner Mutter, an der Traurigkeit meines Vaters? Sim, Sim! Ich ging mit meinem Hund in der Wohnung spazieren und weigerte mich, die Verwirrung meiner Eltern zur Kenntnis zu nehmen, wenn ich ihn beim Namen rief.

    Je älter ich wurde, um so gespannter wurde das Verhältnis zu meinem Bruder. Ich erfand Streitigkeiten zwischen uns, ich lehnte mich gegen seine Autorität auf. Ich wollte ihn zum Nachgeben bewegen, aber ich ging selten als Sieger aus unseren Auseinandersetzungen hervor.

    Im Laufe der Jahre hatte er sich verändert. Aus dem Beschützer war ein spöttischer, manchmal verächtlicher Tyrann geworden. Dennoch erzählte ich ihm weiter von meinen Ängsten, meinen Niederlagen, während ich mich vom Rhythmus seiner Atemzüge in den Schlaf wiegen ließ. Er hörte sich meine Geheimnisse wortlos an, aber sein Blick ließ mich zu einem Nichtsschrumpfen, er musterte meine Schwächen, hob die Bettdecke an, verkniff sich ein Lachen. Da

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