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Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Grimbert
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So mager, kränklich und blaß ich auch war, ich wollte unbedingt der Stolz meines Vaters sein. Von meiner Mutter wurde ich abgöttisch geliebt, schließlich war ich der einzige, der unter ihren durchtrainierten Bauchmuskeln herangewachsen, zwischen ihren sportlichen Schenkeln zur Welt gekommen war. Ich war der erste und der einzige. Vor mir, niemand. Bloß eine Nacht, ein Meer von Dunkelheit, ein paar Schwarzweißfotos, auf denen die Begegnung zweier ruhmreicher, in allen Disziplinen der Leichtathletik gestählter Körper festgehalten war, die später den Bund fürs Leben schlossen, um mich zu zeugen, mich zu lieben und mich zu belügen.

    Ihren Erzählungen nach hatte ich schon immer diesen in unserem Land sehr gebräuchlichen Namen. Meine Abstammung verurteilte mich nicht mehr zum sicheren Tod, ich war nicht mehr jener dürre Zweig an der Spitze eines Stammbaums, den es zu kappen galt.
    Meine Taufe fand so spät statt, daß ich mich noch gut erinnern kann: an die Handbewegung des Priesters, den Abdruck des nassen Kreuzes auf meiner Stirn, das Gefühl, als ich mich an den Priester schmiegte und unter dem bestickten Ende seiner Stola aus der Kirche hinaustrat. Ein Bollwerk, das mich vor dem himmlischen Zorn bewahren würde. Sollte der Sturm von neuem losbrechen, würde mich der Eintrag ins Taufregister schützen. Ich wußte davon nichts; still und gehorsam spielte ich das Spiel mit, bemühte mich wie alle, die mit mir feierten, zu glauben, daß wir nur ein Versäumnis nachholten.
    Das unauslöschliche Zeichen, das mein Geschlechtsorgan trug, schrumpfte zur Erinnerung an einen notwendigen chirurgischen Eingriff. Da war nichts mehr von einem Ritual, es war eine ganz normale Entscheidung, getroffen aus rein medizinischen Gründen. Sogar unser Nachname hatte seine Narben: Auf Ersuchen meines Vaters waren zwei Buchstaben amtlich ausgewechselt worden, und durch die andere Schreibweise schlug er tiefe Wurzeln auf französischem Boden.

    So setzte sich das Vernichtungswerk im verborgenen fort, das die Schlächter einige Jahre vor meiner Geburt betrieben hatten: Es begrub alles unter sich, was geheimgehalten und verschwiegen wurde, verstümmelte die Familiennamen, erzeugte Lügen, die Scham blieb. Obwohl die Verfolger besiegt waren, triumphierten sie noch immer.

    Trotz dieser Vorsichtsmaßnahmen kam die Wahrheit zum Vorschein. Es waren Kleinigkeiten: ein paar Scheibchen ungesäuerten Brots, die in goldbraun gebackenes Rührei getaucht wurden, ein Samowar in moderner Gestaltung auf dem Kaminsims im Wohnzimmer und, im Büfett verschlossen, ein Kerzenleuchter zwischen dem Tafelgeschirr. Und immer wieder diese Fragen: Regelmäßig erkundigte man sich nach der Herkunft des Namens Grimbert, machte sich Gedanken über seine richtige Schreibweise; man grub das »n« aus, das durch ein »m« ersetzt worden war, man stöberte das »g« auf, das von einem »t« verdrängt werden sollte, und wenn ich zu Hause von solchen Mutmaßungen berichtete,wischte mein Vater sie mit einer Handbewegung beiseite. Wir hätten immer so geheißen, hämmerte er mir ein, diese Selbstverständlichkeit dulde keinen Widerspruch: Die Spur unseres Familiennamens sei bis ins Mittelalter zurückzuverfolgen, hieß nicht eine Figur des Roman de Renart * schon Grimbert?

    Ein »m« für ein »n«, ein »t« für ein »g«, zwei winzige Veränderungen. Aber das »aime« (liebe) hatte das »haine« (Haß) verdeckt; da ich des »j’ai« (ich habe) beraubt war, gehorchte ich von nun an dem Gebot des »tais« (schweig).* Ich stieß zwar ständig gegen diese schmerzhafte Mauer, hinter der meine Eltern sich verschanzt hatten, aber ich liebte sie zu sehr, um das Wagnis einzugehen, die Grenzen zu überschreiten, an alte Wunden zu rühren. Ich war entschlossen, nichts zu erfahren.

Lange Zeit hat mein Bruder mir bei der Überwindung meiner Ängste geholfen. Ich spürte den Druck seiner Finger an meinem Arm, seine Hand, die durch mein Haar fuhr, und schöpfte daraus die Kraft, Hindernisse zu überwinden. Wenn ich auf der Schulbank seine Schulter an meiner spürte, fühlte ich mich sicher, und wenn ich abgefragt wurde, flüsterte er mir oft die richtige Antwort ins Ohr.

    Er trug den Stolz der Rebellen zur Schau, die sich über alles hinwegsetzten, der Pausenhofhelden, die dem Ball hinterherflogen, der Eroberer, die über die Zäune kletterten. Unfähig, mich mit ihnen zu messen, lehnte ich mit dem Rücken an der Wand, bewunderte sie und wartete auf das befreiende Klingeln,

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