Ein geschenkter Tag
dass dieser Typ ein Arschloch ist, und wir mussten uns sehr bemühen, um uns in etwas zu hüllen, das noch entfernt an Würde erinnerte.
Erbärmliche Kreaturen sind wir. Und feige, so feige ...
Warum sind wir so? Alle vier? Warum beeindrucken uns Leute, die lauter schreien als andere? Warum sind wir gegenüber aggressiven Menschen so wehrlos?
Was stimmt nicht mit uns? Wo hört die gute Erziehung auf, und wo beginnt die Feigheit?
Wir haben oft darüber gesprochen. Haben uns vor Pizzaresten und behelfsmäßigen Aschenbechern an die Brust geschlagen. Wir brauchen niemanden, der uns auf die Knie zwingt. Wir sind alt genug, um selbst den Kopf zu beugen, und egal, wie viele Flaschen wir auch geleert haben, wir kommen immer wieder zu demselben Schluss: Wenn wir so sind, wie wir sind, stumm und entschlossen, aber machtlos gegenüber irgendwelchen Arschlöchern, dann liegt es daran, dass wir nicht die Spur Selbstvertrauen haben. Dass wir uns selbst nicht lieben.
Ich meine nicht uns persönlich.
So viel Bedeutung gestehen wir uns nicht zu.
Nicht genug, um auf die Weste des alten Molinoux zu spucken. Nicht genug, um auch nur eine Sekunde lang zu glauben, dass unser Aufschrei seinem Gedankenflug eine andere Richtung verleihen könnte. Nicht genug, um zu hoffen, dass unsere Geste des Abscheus, die Serviette, die wir auf den Tisch werfen, den Lauf der Dinge auch nur im geringsten verändern könnte.
Was hätte er gedacht, dieser brave Steuerzahler, wenn wir so reagiert und erhobenen Hauptes sein Haus verlassen hätten? Er hätte bloß den ganzen Abend seine Frau geärgert mit seinem ständigen:
»Was für Dummköpfe aber auch. Also wirklich, was für Dummköpfe. Was für Dummköpfe aber auch...«
Warum sollten wir der armen Frau das antun? Wer sind wir, dass wir zwanzig Leuten die Feier verderben?
Man könnte auch sagen, es sei nicht Feigheit. Man könnte auch sagen, es sei Weisheit. Könnte einräumen, dass wir uns zurückzunehmen wüssten. Dass wir nicht gern in die Scheiße tappen. Dass wir ehrlicher sind als all die anderen, die unaufhörlich quasseln und dabei nichts erreichen.
Ja, so trösten wir uns. Indem wir uns in Erinnerung rufen, dass wir noch jung sind und schon so vieles durchschauen. Dass wir tausend Ellen über dem Ameisenhaufen schweben und dass uns die Dummheit nicht so sehr tangiert. Wir lachen darüber. Wir haben etwas anderes. Wir haben uns. Wir sind auf andere Weise reich.
Wir können uns den inneren Werten zuwenden.
Unser Kopf ist mit den verschiedensten Dingen gefüllt, die weit entfernt sind von diesem rassistischen Gekläff. Da gibt es Musik und Schriftsteller. Bände, Hände, Schlupfwinkel. Spuren von Sternschnuppen auf Kreditkartenbelegen, ausgerissene Seiten, glückliche Erinnerungen, schreckliche Erinnerungen. Lieder, Refrains auf der Zunge, gespeicherte SMS-Nachrichten, beeindruckende Bücher, kitschige Teddys und zerkratzte Platten. Unsere Kindheit, unsere Einsamkeit, unsere ersten Gefühlsregungen und unsere Zukunftspläne. All die Stunden des Wartens, all die aufgehaltenen Türen. Die Kapriolen von Buster Keaton. Armand Robins Brief an die Gestapo und Michel Leiris' Widder in den Wolken. Die Szene in Die Brücken am Fluss, in der sich Clint Eastwood umdreht und sagt: Oh ... and don't kid yourself, Francesca ..., und die Szene in Die besten Jahre, in der Nicola Carati die geschundenen Kranken beim Prozess gegen ihren Peiniger unterstützt. Die Bälle am 14. Juli in Villiers. Der Quittengeruch im Keller. Unsere Großeltern, der Säbel des Monsieur Racine, sein glänzender Harnisch, unsere provinziellen Phantasien und die Abende vorm Examen. Fräulein Trudeis Schirm, als sie zu Gaston aufs Motorrad steigt. Ra sende im Wind von François Bourgeon und die ersten Zeilen im Buch von André Gorz an seine Frau, die Lola mir gestern abend am Telefon vorgelesen hat, als wir wieder einmal eine Stunde lang die Liebe schlechtzumachen versuchten: »Bald wirst Du jetzt zweiundachtzig sein, Du bist um sechs Zentimeter kleiner geworden, Du wiegst nur noch fünfundvierzig Kilo, und immer noch bist Du schön, graziös und begehrenswert.« Marcello Mastroianni in Schwarze Augen und die Kleider eines Cristobal Balenciaga. Wenn wir am Abend aus dem Bus stiegen, der Geruch nach Staub und dem trockenen Brot der Pferde. Die Laiannes in ihren Ateliers mit dem Garten dazwischen. Die Nacht, in der wir die Rue des Vertus neu gestrichen haben, und die Nacht, in der wir die Haut eines Herings
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