Ein Herz bricht selten allein
während Anna die Hemden, die Socken und die Unterhosen für Poldi auspackte, ließ sie sich erzählen, daß ihr Sohn ein Strolch war. Sie versuchte, ruhig zu bleiben bei der Vorstellung, daß er von nun an mit kurzgeschorenem Schädel und einem gestreiften und mit einer Nummer versehenen Drillichanzug auf Kosten der Steuerzahler leben würde. Wie hatte es nur so weit kommen können? Es steckte doch ein guter Kern in ihm, und schließlich hatte Anna ihm auch Pflichtbewußtsein und Ehrlichkeit und ein halbes Dutzend anderer Mannestugenden einzutrichtern versucht. Über Poldi vergaß sie ganz, daß auch Bettinas Geschichte mit Herrn Rindlende nicht gerade sehr erlesen klang. Mechanisch machte sie von den frischen Brötchen, die sie mitgebracht hatte, eine Schinkensemmel zurecht und drückte sie Bettina in die Hand.
»Iß, Kind.«
Aber Bettina ließ die Semmel unberührt und rauchte. Sie sah übernächtig aus, verkatert, und die neue Haarfarbe funkelte zu rot in der Mittagssonne. Anna riß ihr die Zigarette aus der Hand und drückte sie aus. »Iß deine Semmel«, schrie sie sie an. »Trinken, rauchen, klauen und von zu Hause wegrennen! Was habe ich denn für Kinder?«
Bettina biß erschrocken in ihr Schinkenbrot und würgte es unter Annas funkelnden Blicken ganz schnell hinunter. Wie attraktiv sie aussieht, dachte Anna fast ärgerlich. Und wie sie Poldi ähnelt... Meine geliebten, schrecklichen Kinder. Man bringt sie zur Welt und erstickt schier an seinem Glücksgefühl. Der erste Schrei ist schöner als jeder Ton, den je ein Sänger hervorgebracht hat. Das erste Lächeln läßt das Lächeln der Mona Lisa weit zurück. Dann der erste Zahn, das erste Pipi ins Töpfchen, die ersten Schritte, der erste Schultag... — Oh, du lieber Gott, da ist eigentlich der Schmelz längst weg. Jetzt sind sie bereits selbständige Wesen geworden, kehren uns den Rücken zu, laufen weg und sind eifrig bemüht, Mauern zwischen sich und ihren Müttern aufzurichten. Es gibt dann nur noch Gucklöcher, durch die man kleine Ausschnitte seiner Kinder, aber niemals den ganzen Menschen sieht.
Nancy hatte kleine Muscheln, bunte abgeschliffene Glasstückchen und Teile von Seeigeln vor sich aufgereiht.
Ihre Haut prickelte vom Salzwasser, von der Sonne und vom Sand. Sie war glücklich. In wenigen Wochen würde sie wieder in New York sein. Sie besaß ihre eigene kleine Wohnung. Sie stand auf eigenen Füßen, denn man konnte sich in seinen Ansichten und in seinem Lebensstil nicht meilenweit von den Eltern entfernen, aber gleichzeitig von ihnen erwarten, daß sie das Ganze finanzierten. Die Eltern waren prima, aber natürlich hinkten sie hinter der Gegenwart her. Unvermeidlich. Was für ein Schock wäre es für sie, wenn sie wüßten, daß Nancy mit Marihuana Bekanntschaft gemacht hatte, daß sie absolut in der Lage war, an einem Abend eine Flasche Whisky zu leeren und daß sie mit ihren Freunden nicht nur anregende Gespräche führte.
Nancy lag mit geschlossenen Augen und öffnete sie erst, als ein Schatten auf sie fiel. Eine Wolke? Nein, es war ein Mann, nicht ganz so braungebrannt wie die anderen Sonnenprotzen hier rundum, dafür aber auffallend gut gewachsen.
»Hallo, Sie sind Poldi, nicht wahr?« sagte sie und winkte vage mit der Hand.
»Woher wissen Sie das?«
»Ich habe Sie heute morgen gesehen, zusammengerollt wie ein Schiff stau.«
Poldi ließ sich neben ihr im Sand nieder. »Ich weiß. Ich habe Sie auch gesehen.«
»Schwindel. Sie haben geschlafen.«
»Ich penne viel im Freien, und daher schlafe ich wie ein Tier: immer mit einem kleinen Sehschlitz. Ich muß wissen, was um mich her vorgeht. Sie standen am Fenster und warteten auf Mama. Stimmt’s?«
Sie saßen im warmen Sand und betrachteten einander eingehend. Schließlich meinte Nancy: »Sie wären ja fast mein Bruder geworden.«
»Wieso?«
»Na, Sie wissen doch: Dad und Ihre Mutter. Ich weiß nicht, wie weit es gegangen ist, aber es war doch eine ganz große Liebe.« Die Stirn leicht in Falten gelegt, ließ sie ihre grauen Augen über Poldis Gesicht und Gestalt wandern. »Wahrscheinlich wären Sie als mein Bruder ziemlich anders geworden.«
»Warum? Was stört Sie an mir?«
»Sehr viel. Der Typ, den zu verkörpern Sie sich so große Mühe geben.«
Sie sah die Zornesröte nicht, die in seinem bärtigen Gesicht aufstieg. Wahrscheinlich hätte sie sich darüber gefreut, denn es war genau das, was sie erreichen wollte.
»Ihr Amerikanerinnen seid verdammt selbstbewußt und
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