Ein Kind, das niemand vermisst
dem Stuhl halten. Mit ihren Händen umklammerte sie den Becher und summte dabei irgendein Kinderlied. »Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich mich in Chloes Zimmer umsehe?«
»Ist neben dem Bad«, sagte sie und summte weiter.
Cunningham hatte selten ein so trostloses Kinderzimmer gesehen. Die karierte Bettdecke war das einzig farbenfrohe in dem Raum. Die Wände waren komplett weiß, keinerlei Poster oder Bilder hingen dort. Vor dem Fenster stand ein Schreibtisch, auf dem lediglich zwei Schulbücher lagen. Die Schreibtischschublade gab nichts weiter als leeres Papier und Stifte preis. Es gab eine kleine Kiste mit Spielzeug neben dem Bett. Cunningham kniete sich hin und zog eine kaputte Barbie heraus, zwei Teddybären und einen Nintendo mit zahlreichen Spielen. Im Kleiderschrank lag die Kleidung unordentlich in den einzelnen Fächern. Shirts, Hosen und einige Kleider. Er durchwühlte die Sockenschublade, da seine eigenen Kinder dort gerne Tagebücher oder ähnliches versteckten. Aber er fand nichts dergleichen. Gerade als er die Schublade schließen wollte, fiel sein Blick auf ein viel zu großes Paar schwarzer Socken zwischen den bunt gestreiften Kindersöckchen. Als er danach griff, fühlte er sofort, dass dort etwas eingewickelt war. Mit angehaltenem Atem wickelte er die Socken auseinander und war erstaunt ein kleines Butterflymesser und eine Dose Pfefferspray vorzufinden. »Wovor hast du solche Angst«, murmelte er.
»Mit dieser Libby stimmt etwas nicht, Sir. Sie ist total verängstigt», sagte Haines, als sie das Cottage der Conroys verließen und wieder zum Auto gingen. »Sie behauptet nicht zu wissen, dass Chloe Kontakt zu Jayden hatte. Aber das nehme ich ihr nicht ab.«
»Jayden war der beste Freund ihres Bruders Sean, richtig?«
»Genau«, erwiderte Haines und stieg ins Auto ein.
»Haben Sie die Liste?«
Haines kramte einen zerfledderten Zettel hervor. »Das ist die Klassenliste. Libby meinte, sie hätte kaum Freunde. Aber ab und zu habe sie sich mit einer Mia Dunn getroffen. Sollen wir nicht vielleicht die Nachbarn befragen, Sir?«
»Das wird Barton mit ein paar Uniformierten machen. Der müsste in zehn Minuten hier sein.«, sagte Cunningham. »Geben Sie ihm die Liste, er soll mit allen aus der Klasse sprechen, auch mit der Lehrerin.«
Haines nickte.
»Ich habe noch nie ein so verängstigtes Mädchen getroffen«, sagte Haines
»Bei der Mutter«, brummte Cunningham und blickte unentwegt in den Rückspiegel. «Barton, leg einen Zahn zu«, murmelte er. »Das hier«, er holte das Messer und Pfefferspray hervor, »fand ich in Chloes Sockenschublade. Eingewickelt in ein Paar Socken ihres Vaters.«
»Wovor haben die beiden solche Angst? Und wer besorgt einem kleinen Mädchen Pfefferspray.«
»Vielleicht ihre Schwester.«
»Es ist illegal, wie ist sie da ran gekommen?«
Cunningham schnaubte. »Drogen sind auch illegal und dennoch überschwemmen sie die Schulen. Wollen wir bloß hoffen, dass Chloe nur weggelaufen ist.«
»Das glaube ich irgendwie nicht, Sir«, sagte Haines düster.
»Vielleicht war sie verzweifelt wegen ihrer Mutter, rief deswegen Jayden an und -»
»-traf seinen Mörder«, beendete Haines den Satz.
Cunningham schüttelte den Kopf. »Aber warum hätte er Jayden umbringen, die Leiche dort liegen lassen und Chloes Leiche verstecken sollen?«
»Vielleicht hat er sie nicht umgebracht.«
»Vielleicht war sie auch gar nicht dort«, sagte Cunningham.
»Hoffentlich. Libby hat mir dieses Bild von Chloe gegeben. Es ist vor zwei Wochen aufgenommen worden.« Haines reichte Cunningham das Foto, das er sorgfältig betrachtete. Ein kleines Mädchen, das auf einer Gartenbank saß. Ovales Gesicht, blass, strahlend blaue Augen und dunkelblonde Zöpfe. Sie wirkte traurig, als ob sie irgendetwas bedrückte. Auf ihrem Schoß lag ein kleiner Rucksack und ein aufgeschlagenes Buch. Er seufzte laut und steckte das Foto in seine Jackentasche.
Ein roter Peugeot fuhr die Straße hoch und hielt nur knapp eine Handbreit hinter Haines Ford. Barton stieg aus und steckte seinen Kopf durch das halboffene Seitenfenster. »Geht um ein vermisstes Mädchen, Sir?«
»Chloe Conroy. Zehn Jahre alt. Ihre Mutter ist kaum in der Lage eine Vermisstenanzeige aufzugeben, aber vielleicht haben Sie ja Glück. Schütten Sie ihr ordentlich Kaffee ein.«
Barton runzelte die Stirn.
»Sie ist blau wie eine Haubitze.«
»Ach nein. Wieso bekomme ich immer die Betrunkenen ab?«
Haines reichte ihm mit einem süffisantem
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