Ein Kind, das niemand vermisst
schmalen Flur entlang an zwei Uniformierten und drei Leuten von der Spurensicherung.
»Leute, macht doch etwas Platz!«, schrie einer und funkelte Cunningham im Vorbeigehen böse an.
Dieser warf nur einen kurzen Blick auf die Leiche in der Küche, dann marschierte er weiter Richtung Wohnzimmer. »Wir haben dich früher erwartet, Ben», hörte er eine Stimme hinter sich.
»Auto kaputt. Meine Frau musste mich auf halber Strecke einsammeln und herbringen.»
Jack Fitz von der Spurensicherung lachte laut. Er war klein und mollig, und mit seiner Halbglatze erinnerte er Cunningham an einen Pflummi.
»Auto kaputt ist ein Synonym für Ich habe die ganze Nacht gefeiert und verschlafen .»
»Und was ist das Synonym für Auto kaputt? Oder kommt so etwas einfach nicht vor bei uns?«, giftete Cunningham.
»Nicht bei einem DCI», erwiderte Fitz mit spöttisch verzogenem Mund und eilte zurück in die Küche, nicht ohne vorher in schallendes Gelächter ausgebrochen zu sein. Cunningham seufzte laut und war versucht Fitz über unangemessenes Verhalten an Tatorten aufzuklären, doch er wusste, dass es keinen Zweck hatte. Je mehr Blut an einem Tatort floss, umso dreckiger wurde Fitz' Humor. Vermutlich seine ganz eigene Art mit den schrecklichen Bildern umzugehen. Und die hatte ihm bereits vor einigen Monaten Ärger eingebracht, als sich die Mutter eines Mordopfers über die Respektlosigkeit beklagt hatte, mit der die Polizei ihren Sohn und sie selbst behandelt hatte. Fitz hatte damals einen Witz über einen Schlachter gemacht, während er ein Steakmesser aus dem jungen Mann herausgezogen hatte, der blutüberströmt im Wohnzimmer seiner Eltern gelegen hatte. Seine Mutter war zwei Meter weiter von einer Polizeibeamtin vernommen worden und hatte alles mitangehört. Sie hatte sich beschwert, sowohl beim Polizeichef als auch in den Medien. Die Angelegenheit hatte zwei Tage lang die Titelseiten der Zeitung eingenommen. Mit einer Verwarnung und einer Wochenendschulung war Fitz davon gekommen. Gelernt hatte er daraus anscheinend nichts.
Zögernd trat Cunningham ins Wohnzimmer und hoffte inständig, dass die Freundin das schallende Gelächter nicht mitbekommen hatte. Zu gut konnte er sich in ihre Situation hinein versetzen. Er wusste, wie schmerzhaft so eine Erfahrung war. Das Vorfinden einer Leiche, zu der man in enger Beziehung gestanden hatte, die Weigerung zu glauben, was man sah und bevor man auch nur annähernd realisiert hatte, was überhaupt passiert war, trampelten Polizisten durchs Haus und stellten tausend Fragen, auf die man kaum in der Lage zu antworten war. In so einer Verfassung war jede äußere Störung, sei es durch unsensible Fragen oder Gekicher und Lachen, wie ein zusätzlicher Stich ins Herz.
Auf einem Ledersofa vor einem abgedunkelten Fenster saß eine junge Frau, die Arme zitternd um den eigenen Körper geschlungen, die geröteten Augen blickten ins Leere. Ihre langen blonden Haare waren zu einem Zopf gebunden und ihre Kleidung ließ darauf schließen, dass sie direkt von einer Party zurückgekommen sein musste. Bauchfreies Top, schwarzer Minirock und eine pinke Nylonstrumpfhose. Er fürchtete sich vor dem Tag, an dem eine seiner Töchter so herumlaufen würde.
DS Megan Haines saß auf einem Sessel, die roten Haare sorgfältig zu einem Zopf geflochten, auf dem Schoß einen aufgeschlagenen Notizblock.
»Sir, das ist Alice Brown, sie hat die Lei- sie hat Mr. Hawthorn gefunden.«
»Können wir nicht etwas Licht herein lassen?«, fragte Cunningham mit ruhiger Stimme. Haines stand auf, trat ans Fenster und zog die Jalousien hoch.
»Hallo Alice«, sagte Cunningham und kniete sich vor die junge Frau, die nichts um sich herum wahr zu nehmen schien.
»Ich bin Detective Chief Inspector Cunningham. Meinen Sie, Sie können uns ein paar Fragen beantworten?«
Alice nickte kaum merklich.
»Das Opfer war ihr Freund?«
»Wir sind...waren seit einem Jahr zusammen.«
»Wessen Wohnung ist das?«
Ihre Lippen zitterten, als sie sprach. »Meine. Ich wohne seit einem halben Jahr hier. Vor drei Monaten ist Jayden eingezogen. Sein Vater hat ihn rausgeworfen.« Sie räusperte sich mehrmals. »Er wollte sich etwas eigenes suchen. Wir...ich fand es noch zu früh um zusammen zu wohnen.«
»War es etwas Ernstes zwischen Ihnen?«
Alice biss sich auf die Lippen und zuckte schließlich die Schultern. »Wir...eigentlich passen wir nicht zusammen.«
»Wie alt sind Sie?«
»Es ist nicht nur der Altersunterschied«, sagte sie
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