Ein Kuss vor Mitternacht
Lady Rutherford sie so ausgesucht liebenswürdig und hilfsbereit behandelt hatte, überlegte Constance. Erkannte sie doch in Constances überstürzter Flucht ihre letzte Chance, doch noch ans Ziel ihrer Wünsche zu gelangen. Gemeinsam mit dem Earl war der Plan gefasst worden, Constance den vermeintlichen Diebstahl unterzuschieben, um ihren Ruf endgültig zu ruinieren. Damit würde ihrem Vorhaben, Dominic mit Muriel zu verheiraten, nichts mehr im Weg stehen.
Constance straffte die Schultern. „Ja, Sie haben diese Schandtat gemeinsam geplant!“
Was Constance nicht begreifen konnte, war das Motiv. Wieso gaben diese habgierigen Menschen sich nicht mit der Tatsache zufrieden, dass sie aus freien Stücken auf Dominic verzichtete und bereit war, ihn gegen seinen Willen zu verlassen?
Offenbar hatte man befürchtet, Dominic würde Einwände dagegen erheben. Deshalb hatten sie es für notwendig erachtet, Constance als Diebin zu überführen, um Dominic davon abzubringen, sie zu heiraten. Und keiner der Beteiligten hatte einen Gedanken daran verschwendet, dass Constances guter Ruf für immer verdorben und geschändet wäre.
„Miss Woodley!“, warnte Lady Rutherford spitz. „Hüten Sie Ihre Zunge! Wagen Sie es nicht, so mit mir zu sprechen!“ Sie wandte sich voller geheucheltem Mitgefühl an Lord und Lady Selbrooke. „Was für ein schwerer Schlag für Sie, Mylord, Mylady. Wie schrecklich, feststellen zu müssen, dass Sie eine Schlange an Ihrem Busen genährt haben“, sagte sie scheinheilig. „Und diese Person wäre beinahe Ihre Schwiegertochter geworden.“
Lady Selbrooke sah nur schweigend zu Boden. Wenigstens hatte die Dame des Hauses so viel Anstand, dachte Constance, dieses böse Spiel nicht auch noch zu unterstützen.
Ein betretenes Schweigen lag über den Anwesenden, deren ratlose Blicke Constance auf sich spürte. Mit sich steigerndem Entsetzen wurde ihr klar, dass sie keine Ahnung hatte, wie sie die Beschuldigungen von Lord Selbrooke widerlegen sollte. Niemand wusste von ihrer gestrigen Unterredung mit ihm. Und wer käme schon auf die Idee, ein Angehöriger der Hocharistokratie wäre zu einer solch infamen Niedertracht fähig? Wem würde man mehr Glauben schenken, ihm oder ihr?
„Ich habe diesen Schmuck nicht gestohlen“, verteidigte Constance sich endlich und ärgerte sich über ihre zittrige Stimme. „Sie boten mir die Kette an, die ich ablehnte, um dann aus Redfields abzureisen. Damit hatten Sie Ihr Ziel doch erreicht. Warum genügte Ihnen das nicht?“
Sie wagte einen Blick in Dominics Richtung, der seinen Vater eindringlich musterte. Wieder fühlte sie den Stich in ihrem Herzen bei dem Gedanken, Dominic könne den Lügen seines Vaters Glauben schenken. Diese bittere Enttäuschung würde sie nicht überleben.
Wieder entstand ein lastendes Schweigen, bis Dominic endlich etwas sagte. Seine Stimme klang klirrend kalt. „Etwas Besseres konnte dir wohl nicht einfallen, Vater, wie?“
Lord Selbrooke gab sich empört. „Was soll das heißen? Diese Person hat ein Stück unseres Familienschmucks entwendet! Du wirst doch nicht so naiv sein, auch nur ein Wort ihrer lächerlichen Verteidigung zu glauben!“
„Nein, naiv bin ich gewiss nicht“, entgegnete Dominic gleichmütig, nur seine blauen Augen blitzten wie Eiskristalle. „Und ich glaube auch nicht, dass einer der Anwesenden so naiv ist, dir diese Lügengeschichte abzukaufen, die du dir aus den Fingern gesogen hast.“
Der Earl holte tief Luft, er schien um Fassung zu ringen. „Wie kannst du es wagen …“
„Nein, Vater! Wie kannst du es wagen?“ Dominic schnitt ihm wütend das Wort ab, trat näher und stellte sich zwischen den Earl und Constance. „Wie konntest du dich in deiner Habgier und Feindseligkeit zu diesem ehrlosen Verhalten hinreißen lassen?“
Hochrot im Gesicht machte Lord Selbrooke den Mund auf, ohne eine Wort hervorzubringen. Dominic trat noch einen Schritt näher und nahm ihm kurzerhand den Schmuck aus der Hand, worauf es dem Earl vollends die Sprache verschlug. Er schnaubte und stammelte unverständliches Zeug, während Dominic sich umdrehte, die Kette von seinen Fingern baumeln ließ und die auf der Treppe versammelten Gäste anschaute, die Augen und Mund aufsperrten.
„Niemand von Ihnen kennt Miss Woodley so gut wie ich. Vielleicht würde ihr jemand von Ihnen sogar einen Diebstahl zutrauen. Aber vermutlich wissen Sie nicht, dass sie mir ausreden wollte, sie zu heiraten, da sie der Meinung ist, ich müsse mich dem
Weitere Kostenlose Bücher