Verfolgt im Mondlicht
1. Kapitel
Kylie Galen stand auf der Veranda vor dem Büro des Shadow Falls Camps und versuchte, ihre Panik zu kontrollieren. Eine spätsommerliche Brise vertrieb die Kälte, die ihr Geistervater hinterlassen hatte, und wehte ihr eine Strähne ihres blonden Haares vor die Augen. Sie strich sich die Strähne nicht aus dem Gesicht. Sie hielt den Atem an. Stand einfach nur da, starrte durch die Haarsträhnen auf die Bäume, die sich im Wind wiegten.
Warum muss mein Leben nur so verdammt schwer sein? Die Frage sprang ihr im Kopf herum wie ein verrückt gewordener Tischtennisball.
Weil ich kein normaler Mensch bin, war die einfache Antwort. Die letzten paar Monate hatte sie wie besessen versucht, ihre Identität als Übernatürliche zu finden. Jetzt wusste sie, was sie war.
Laut ihrem Vater war sie … ein Chamäleon. Sie stellte es sich so ähnlich vor wie die Eidechsen, die sich bei ihr zu Hause immer im Garten an der Mauer gesonnt hatten. Okay, vielleicht nicht ganz so, aber schon so ähnlich.
Und da hatte sie sich Sorgen gemacht, ein Vampir oder ein Werwolf zu sein, weil sie sich schwer vorstellen konnte, sich an das Bluttrinken zu gewöhnen oder daran, sich bei Vollmond zu verwandeln. Aber das … das war … unfassbar. Ihr Vater musste sich einfach irren.
Ihr Herz hämmerte gegen ihren Brustkorb, als wollte es sich daraus befreien. Sie atmete endlich wieder aus. Und tief ein. Ihre Gedanken drifteten von einem schwierigen Thema zum nächsten.
Und davon gab es gerade eine Menge. In den letzten Minuten hatte sie nicht nur eine, nicht zwei, nicht drei – nein – sogar vier ziemlich krasse Neuigkeiten erfahren.
Okay, die eine Sache – Dereks Liebesgeständnis – konnte nicht richtig zu den anderen gezählt werden, weil es nichts Negatives war. Aber toll war es auch nicht gerade. Nicht jetzt. Wo sie gerade einigermaßen über ihn hinweg war. Wo sie die letzten Wochen damit verbracht hatte, sich einzureden, dass sie nur Freunde waren.
Sie ging im Kopf die weiteren Neuigkeiten durch. Sie wusste nicht, worauf sie sich zuerst konzentrieren sollte. Oder vielleicht doch. Sie war eine verdammte Eidechse!
»Ernsthaft?«, fragte sie ins Leere. Der texanische Wind schnappte sich ihre Worte und trug sie davon. Sie hoffte, er würde sie bis zu ihrem Vater tragen, wo auch immer er gerade war. Wahrscheinlich in irgendeiner Zwischenwelt auf dem Weg ins Jenseits. »Echt jetzt, Dad? Eine Eidechse?«
Natürlich antwortete ihr Vater nicht. Nach den zwei Monaten, in denen sie mit einem Geist nach dem anderen zu tun gehabt hatte, ärgerte sie sich immer wieder über die Grenzen, die ihr beim Geistersehen gesetzt waren. »Verdammt!«
Sie machte einen weiteren Schritt auf die Tür des Campbüros zu, wo sie sich bei Holiday auskotzen wollte, hielt dann aber inne. Burnett James, der zweite Campleiter, ein emotional etwas unterkühlter, aber umso heißer aussehender Vampir, war gerade bei Holiday. Da Kylie die beiden nicht mehr streiten hörte, ging sie davon aus, dass sie mit etwas anderem beschäftigt waren. Und ja, mit etwas anderem meinte sie Rumknutschen, Speichel austauschen, Zungentango. Alle möglichen Ausdrücke, die ihre launische Vampir-Mitbewohnerin Della immer benutzte, fielen ihr dazu ein. Was wahrscheinlich bedeutete, dass sie selbst gerade nicht die beste Laune hatte. Aber nach allem, was ihr passiert war, stand ihr da nicht ein bisschen schlechte Laune zu?
Sie knetete nervös die Hände und stand unschlüssig vor der Tür. Ohne es zu wollen, hatte sie schon den ersten Kuss von Burnett und Holiday unterbrochen. Sie hatte nicht vor, das beim zweiten zu wiederholen. Besonders jetzt, wo Burnett damit gedroht hatte, Shadow Falls zu verlassen. Holiday würde ihn doch bestimmt umstimmen können, oder?
Mal davon abgesehen, vielleicht tat es ihr auch ganz gut, erst mal etwas runterzukommen. Sich zu entspannen. Ihre Gedanken zu sortieren, bevor sie mit dieser miesen Laune zu Holiday rannte. Sie dachte an ihr letztes Geistererlebnis. Wie konnte ihr der Geist von jemandem erscheinen, der noch am Leben war? Es musste ein Trick sein, oder?
Sie schaute sich um, ob der Geist auch wirklich wieder weg war. Zumindest die Kälte war verschwunden.
Sie machte kehrt und sauste die Verandatreppe hinunter und um die Ecke. Als sie hinter dem Campbüro angekommen war, begann sie zu laufen. Sie sehnte sich nach der Freiheit, die sie verspürte, wenn sie rannte. Wenn sie schnell rannte – übernatürlich schnell.
Der Wind
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