Ein Lied für meine Tochter
physischen Schaden zu vermeiden, und vor einer wichtigen Rede dreht sich einem der Magen um, weil Adrenalin durch die Adern schießt und eine physiologische Fluchtreaktion hervorruft. Aber die Art, wie die Menschen auf Musik reagieren, ergibt im evolutionären Kontext keinen Sinn. Das Stampfen im Takt, das Verlangen mitzusingen oder aufzuspringen und zu tanzen, all das ist für das Überleben absolut unnötig. Aus diesem Grund betrachten viele Wissenschaftler unsere Reaktion auf Musik als Beweis dafür, dass wir in unserem Verhalten eben nicht nur von biologisch-physiologischen Prozessen bestimmt sind. Denn wenn die Seele berührt wird, setzt das vor allem voraus, dass man auch eine Seele hat.
Es finden Spiele statt: Schätze Zoes Bauchumfang, lustiges Handtaschenraten (da wäre ja sicher auch niemand drauf gekommen, dass meine Mutter eine unbezahlte Stromrechnung mit sich herumschleppt …), ein Babysockenmemory und zu guter Letzt ein ganz besonders ekeliges Spiel. In Windeln wird geschmolzene Schokolade herumgereicht, und die Gäste müssen erraten, um welche Marke es sich handelt.
Obwohl ich eigentlich nicht auf solche Sachen stehe, mache ich alles mit. Meine Teilzeitbuchhalterin, Alexa, hat das alles organisiert und sich auch die Mühe gemacht, die Gäste aufzutreiben: meine Mutter, meine Cousine Isobel, Wanda aus dem Shady-Acres-Pflegeheim, eine Krankenschwester von der Station für Verbrennungen, auf der ich arbeite, und eine Schulpsychologin namens Vanessa, die mich Anfang des Jahres kontaktiert hat, damit ich einen zutiefst autistischen Neuntklässler musiktherapeutisch behandele.
Es ist irgendwie deprimierend, dass diese Frauen, die man bestenfalls als Bekannte bezeichnen kann, jetzt als meine besten Freundinnen herhalten müssen. Aber ich muss zugeben, wenn ich nicht grad arbeite, dann bin ich mit Max zusammen. Und Max würde sich lieber von einem seiner eigenen Rasenmäher überfahren lassen, als Schokoladenkaka in einer Windel zu identifizieren. Allein aus diesem Grund ist er schon der einzige Freund, um den ich wirklich etwas gebe.
Ich schaue zu, wie Wanda in die Windel starrt. »Snickers?«, rät sie falsch.
Dann bekommt Vanessa die Windel. Vanessa ist groß und hat kurzes platinblondes Haar und stechende blaue Augen. Als ich das erste Mal im College war, hat sie mich sofort in ihr Büro gebeten und mir einen leidenschaftlichen Vortrag darüber gehalten, dass es sich bei den SAT-Tests ja wohl offensichtlich um eine Verschwörung der College-Verwaltung handeln müsse, die auf diese Weise wahrscheinlich die Weltherrschaft übernehmen wolle, für die man auch noch achtzig Dollar pro Person bezahlen müsse. Oder , hatte sie gefragt, nachdem sie kurz Luft geholt hatte, was meinen Sie dazu?
Ich bin nur die neue Musiktherapeutin , erwiderte ich.
Vanessa blinzelte mich an, schaute auf ihren Kalender und blätterte eine Seite zurück. Oh , sagte sie, richtig, der Vertreter von Kaplan hat sich erst für morgen angemeldet.
Vanessa schaut noch nicht einmal in die Windel. »Also für mich sieht das wie Mounds aus«, erklärt sie trocken. »Zwei davon, um genau zu sein.«
Ich breche in lautes Lachen aus, aber offenbar bin ich die Einzige, die Vanessas Scherz verstanden hat. Alexa wirkt untröstlich, weil niemand ihre Partyspiele ernst nimmt. Dann mischt meine Mutter sich ein und nimmt Vanessa die Windel ab. »Wie wäre es mit einer Runde ›Ein Name für das Baby‹?«, schlägt sie vor.
Ich spüre ein Zwicken in der Seite und reibe mit der Hand darüber.
Meine Mutter liest einen Text vor, den Alexa aus dem Internet ausgedruckt hat. »Ein Babylöwe ist ein …?«
Meine Cousine reißt die Hand hoch. »Ein Kätzchen!«, ruft sie.
»Stimmt! Ein Babyfisch ist …?«
»Kaviar?«, rät Vanessa.
»Ein Fischstäbchen«, scherzt Wanda.
»Haha«, sagt Isobel.
»Ich sage euch, ich habe das mal bei ›Wer wird Millionär‹? gesehen …«
Plötzlich habe ich einen derart heftigen Krampf, dass es mir den Atem verschlägt.
»Zoe?« Die Stimme meiner Mutter klingt wie aus weiter Ferne. Ich rappele mich mühsam auf.
Ich bin erst in der achtundzwanzigsten Woche , denke ich. Das ist zu früh.
Wieder erfasst mich ein Krampf. Als ich gegen meine Mutter falle, spüre ich einen warmen Wasserfall zwischen meinen Beinen. »Meine Fruchtblase«, flüstere ich. »Ich glaube, sie ist gerade geplatzt.«
Doch als ich nach unten schaue, stehe ich in einer Blutlache.
Letzte Nacht haben Max und ich zum ersten Mal über
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