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Ein Lied für meine Tochter

Ein Lied für meine Tochter

Titel: Ein Lied für meine Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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aufgeregte Atmosphäre, die ich in den Geburtssoaps im Fernsehen gesehen habe.
    Ich werde mich nicht mehr daran erinnern, wie meine Fruchtblase platzt oder wie Blut das Laken durchtränkt, auf dem ich liege. Ich werde mich nicht mehr an den traurigen Blick des Anästhesisten erinnern, der mir sein Beileid ausspricht, bevor er mich auf die Seite dreht und mir eine Epiduralanästhesie setzt.
    Ich werde mich nicht mehr daran erinnern, wie meine Beine plötzlich taub werden und ich mir denke, dass das wenigstens ein Anfang ist. Jetzt müssen sie nur noch den Rest betäuben.
    Ich werde mich nicht mehr daran erinnern, wie ich nach einer besonders heftigen Wehe die Augen öffne und Max’ Gesicht sehe. Es ist genauso verzerrt und voller Tränen wie meins.
    Ich werde mich nicht mehr daran erinnern, wie ich Max sage, er soll Beethoven abstellen. Und ich werde mich nicht mehr daran erinnern, wie ich die Dockingstation einfach vom Tisch fege, als er nicht schnell genug reagiert.
    Und ich werde mich nicht mehr daran erinnern, wie still es anschließend ist.
    Irgendjemand wird mir erzählen müssen, wie das Baby zwischen meinen Beinen herausrutscht und Dr. Gelman mir sagt, es sei ein Junge.
    Aber das kann nicht sein , werde ich denken, obwohl ich mich nicht erinnern kann. Bertha sollte doch ein Mädchen werden. Und ich werde mich nicht mehr daran erinnern, dass ich mich hinterher frage, worin die Ärzte sich sonst noch geirrt haben.
    Ich werde mich nicht daran erinnern, wie die Krankenschwestern ihn in eine Decke wickeln und ihm eine winzige, gehäkelte Kappe aufsetzen.
    Ich werde mich nicht daran erinnern, wie ich ihn in den Armen halte: seinen Kopf, der kaum größer ist als eine Pflaume, und sein blaues Gesicht, die perfekte Nase, die niedliche Schnute, die weiche Haut und die Brust, die so zerbrechlich ist wie die eines Vogels und die sich nicht bewegt. Er passt in meine Hand und wiegt fast nichts.
    Ich werde mich nicht mehr daran erinnern, dass ich bis zu diesem Augenblick einfach nicht daran geglaubt habe, dass er wirklich tot ist.
    Im Traum reise ich einen Monat zurück. Max und ich liegen kurz nach Mitternacht im Bett. Bist du wach? , frage ich.
    Ja. Ich denke nach.
    Worüber?
    Er schüttelt den Kopf. Nichts.
    Du hast dir Sorgen gemacht , sage ich.
    Nein. Ich habe nur über Olivenöl nachgedacht , sagt er ernst.
    Über Olivenöl?
    Ja. Woraus wird das gemacht?
    Soll das eine Scherzfrage sein? , erwidere ich. Aus Oliven natürlich.
    Und Sonnenblumenöl? Woraus wird das gemacht?
    Aus Sonnenblumenkernen.
    So , sagt Max, und was ist mit Babyöl?
    Einen Augenblick lang schweigen wir beide. Dann brechen wir in lautes Lachen aus. Wir müssen so lachen, dass mir die Tränen in die Augen treten. Ich greife im Dunkeln nach Max’ Hand, finde sie aber nicht.
    Als ich aufwache, sind die Jalousien heruntergelassen, doch die Tür steht auf. Zuerst weiß ich nicht, wo ich bin. Im Flur herrscht Lärm, und ich sehe eine Familie – Großeltern, Kinder, Teenager –, die lachend an meiner Tür vorbeizieht. Sie haben Ballons dabei.
    Ich beginne zu weinen.
    Max sitzt neben mir auf dem Bett. Unbeholfen nimmt er mich in den Arm. Er ist nicht gerade eine geborene Florence Nightingale. Einmal hatten wir Weihnachten beide die Grippe. Wenn ich mich nicht gerade selbst erbrochen habe, bin ich ins Badezimmer gegangen und habe ihm kalte Kompressen gemacht. »Zoe«, murmelt er. »Wie fühlst du dich?«
    »Wie glaubst du wohl?« Ich bin eine Hexe. Wut brennt in mir. Sie füllt den Raum in mir, in dem vor Kurzem noch mein Baby lebte.
    »Ich will ihn sehen.«
    Max erstarrt. »Ich, äh …«
    »Ruf die Krankenschwester.« Die Stimme meiner Mutter kommt aus der Zimmerecke. Ihre Augen sind rot und geschwollen. »Du hast gehört, was sie will.«
    Max nickt, steht auf und verlässt den Raum. Meine Mutter nimmt mich in den Arm. »Das ist nicht fair«, sage ich unter Tränen.
    »Ich weiß, Zoe.« Sie streichelt mir übers Haar, und ich drücke mich an sie, so wie ich es mit vier Jahren gemacht habe, als man mich wegen meiner Sommersprossen ausgelacht hat, oder mit fünfzehn, als man mir zum ersten Mal das Herz gebrochen hat. Mir wird klar, dass ich mein eigenes Kind nie auf diese Art werde trösten können, und ich weine noch mehr.
    Eine Krankenschwester betritt den Raum, gefolgt von Max. »Hier«, sagt er und gibt mir ein Foto von unserem Sohn. Es sieht so aus, als hätte man ihn schlafend in einer Wiege fotografiert. Seine Hände sind neben dem Kopf zu

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