Ein Mund voll Glück
Art, die Nerven seiner Patienten zu schonen, und Fräulein Faber streifte ihn mit einem dankbaren Blick. Sie schätzte ihn auf etwa dreißig Jahre. Der Ring an seiner linken Hand sah ziemlich neu aus, trotzdem tippte sie darauf, daß er verheiratet sei und den Ring nur deshalb links trug, weil er ihn rechts bei der Arbeit gestört hätte. Auf jeden Fall mußte er immens tüchtig sein, wenn er in so jungen Jahren schon eine derart imponierende und aufs Modernste eingerichtete Praxis in dieser teuren Wohnlage unterhalten konnte. Aber er sah auch so aus, wie sie sich einen Mann vorstellte, der es gewohnt war, im Leben voranzukommen.
Der Doktor legte den Bohrer ab. »Wir sind gleich fertig«, sagte er und rührte auf einem Porzellanplättchen über der blauen Flamme einer Spirituslampe die Füllungsmasse für die erste Einlage an. Fräulein Faber lag reglos mit emporgezogener Oberlippe auf der harten Polsterung und schaute ihm aus halbgeschlossenen Lidern zu.
»Übrigens glaube ich, daß wir den Zahn durchbringen werden. Die Entfernung des Nervs ist immer eine heikle Sache. Der Zahn verfärbt sich mit der Zeit. Man kann ihn ein wenig bleichen, aber er bleibt ein geschminkter Leichnam...« Er stieß die Luft durch die Nase: »Mit Vergleichen ist es immer so eine Geschichte«, fügte er mit umwölkter Stirn hinzu, »aber das werden Sie besser wissen als ich.«
Fräulein Faber versuchte zu lächeln, aber ihre Wangenmuskeln zitterten, und es wurde eine Grimasse daraus.
»Brav durchgehalten«, lobte der Doktor und verschloß die Einlage mit der rasch erhärtenden Füllmasse, »und damit hätten wir es für heute...« Das Wort >geschafft< blieb unausgesprochen, denn die Arme seiner Patientin sanken von den Lehnen des Operationsstuhles herab, der Mund blieb gehorsam geöffnet, aber die Lippen waren schneeweiß, und aus den Wangen war der letzte Blutstropfen gewichen.
»Um Himmels willen, ohnmächtig!« stellte der Doktor fest. Ein Kollaps! Unter tausend Patienten kam das einmal vor. Und ausgerechnet ihm mußte das passieren! Er lief zum Waschbecken und drehte den Kaltwasserhahn auf, tränkte ein Handtuch und ließ ein Wasserglas vollaufen, eilte zurück, preßte das zusammengerollte Handtuch auf Fräulein Fabers Stirn und hob vorsichtig ihren Kopf, um ihr das Trinken zu erleichtern. Aber das Wasser rann an ihren Lippen vorbei und versickerte im Halsausschnitt ihres Kleides. Sie erschauerte, aber damit setzte auch die Atmung kräftiger ein, die Farbe kehrte in die Wangen und Lippen zurück, und schließlich schlug sie die Augen auf und sah den Doktor verwirrt an, als müsse sie sich erinnern, wer er sei und wie sie in diesen Raum gekommen war.
»Sie machen ja schöne Sachen«, rief er erleichtert.
»Entschuldigen Sie, Herr Doktor...«
»Nichts zu entschuldigen, so etwas kann vorkommen...«, er reichte ihr das noch halbgefüllte Glas, und sie trank es leer.
»Haben Sie etwas mit dem Herzen?« fragte er in einem Ton, der nicht frei von Selbstvorwürfen war, sich nicht vor der Behandlung nach ihrem Gesundheitszustand erkundigt zu haben.
Sie schüttelte den Kopf: »Nein, damit hat es nichts zu tun. Möglich, daß ich in den letzten Nächten zu wenig geschlafen habe, in den beiden letzten wegen des Zahnes und früher, weil ich eben nur in der Nacht zum Schreiben komme...«
»Was tun Sie denn tagsüber?«
»Ich habe einen ziemlich großen Haushalt zu führen...«
»Wie bitte?« fragte er verblüfft.
»Ich will es Ihnen erklären. Meine Eltern kamen vor fünf Jahren bei einem Autounfall ums Leben. Ich war neunzehn und hatte gerade das Abitur hinter mir. Ich wäre gern Ärztin geworden. Aber unter diesen Umständen war es mit solchen Plänen natürlich vorbei...«
»Oh«, murmelte er bedauernd und nahm das nasse Handtuch, um es ins Waschbecken zu werfen, »das ist natürlich eine schlimme Geschichte...« Er senkte den Operationsstuhl und drückte die Lehne empor, so daß sie bequem sitzen und noch ein wenig ruhen konnte.
»Mein Vater war Graphiker. Ein sehr gesuchter und vielbeschäftigter Mann. Wir lebten gut...« Sie hob den Blick und sah dem Doktor frei in die Augen. »Ich will nicht den Eindruck erwecken, als erhöbe ich gegen meinen Vater irgendeinen Vorwurf, daß er nicht daran dachte, uns zu versorgen. Er war nun einmal so, wie er war. Er nahm eine Menge Geld ein und gab es ebenso leicht wieder aus. Er hatte unter anderem eine Schwäche für schnelle Autos. Um die Zukunft machte er sich kaum Gedanken. Er hatte es
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