Ein Mund voll Glück
1
Ein kurzer Gewitterregen war über die Stadt hinweggebraust. Das dunkle Gewölk, von zuckenden Blitzen aufgerissen, bedeckte noch die östliche Himmelskuppel, während im Westen die Sonne bereits wieder aus heiterem Blau herniederstrahlte. Der Doktor stand in seinem makellos weißen Mantel am Fenster des Ordinationszimmers. Er drückte die Stirn gegen das kühle Glas und stützte sich mit beiden Händen auf die steinerne Fensterbank, unter der sich der kalte Radiator der Zentralheizung befand. Ob kalt oder warm, sechzig blanke Katharinchen waren dafür an jedem Ersten fällig. Der Doktor stieß einen leichten Seufzer aus und senkte den Blick. Am Ringfinger seiner linken Hand blitzte ein funkelnagelneuer Verlobungsring, den er seit vier Wochen trug, aber auch dieser Anblick schien sein verdüstertes Gemüt nicht aufzuhellen.
Die Linden auf der Promenade, erfrischt und verjüngt, als hätten sie ihre herzförmigen Blätter erst in der letzten Nacht entfaltet, spiegelten ihre tropfenden Laubschirme in der blank gewaschenen Schwärze des Asphalts so deutlich wider, als würfen sie ihr Bild in die dunklen Fluten eines träg dahinströmenden Kanals. Wenn der Doktor über ihre Kronen hinwegschaute, sah er von seiner Höhe im fünften Stockwerk weit über die gegenüberliegenden Dächer hinweg, bis sich der Blick in den grauen Rauchschleiern von Fabrik- und Brauereischloten verlor. Es war ein heller, geradezu ideal gelegener Arbeitsraum. Von den Geräuschen der Straße drang bis zu seiner Höhe kaum ein Laut herauf. Natürlich war ein Lift vorhanden. Aber auch der kostete, ob er nun benutzt wurde oder nicht, dreißig Mark pro Monat. Nicht viel, aber man mußte sie erst einmal haben.
Der große Wandkalender, Reklamegeschenk einer pharmazeutischen Fabrik, zeigte den 25. Juni. Die Verlobung hatte am letzten Sonntag im Mai stattgefunden. Tante Hedis Augen waren feucht geworden, als Onkel Paul, von der reichlich mit Kognak angesetzten Erdbeerbowle beschwingt, die Liebe, den Mai und das junge Paar hochleben ließ. Als ob der Mai in diesem Falle seine Kupplerrolle besonders gut gespielt hätte. Vom Hochzeitstermin hatte man bisher noch nicht gesprochen — vielleicht, weil die Verlobung für alle Beteiligten und vor allem für die Verlobten selbst überraschend schnell gekommen war.
Die elektrische Uhr über dem großen Waschbecken ging auf sechs. Der Doktor warf einen letzten Blick über die Dächer und drehte sich mit einem zweiten Seufzer vom Fenster weg. Warten — warten und nochmals warten. Die unangenehmste Beschäftigung für einen Mann von dreißig Jahren, der vor Tatendurst fieberte und zudem seinen Namen unter einige Papierchen geschrieben hatte, um seinem Tatendrang als selbständiger Mann in einer modern eingerichteten Praxis frönen zu können. Hannelore war fraglos ein nettes Mädchen. Ein sehr nettes Mädchen sogar. Aber die Idee, sich von Gegenwarts- und Zukunftssorgen durch eine gute Partie zu befreien, stammte wahrhaftig nicht aus seinem Kopf. Das war allein Onkel Pauls Werk, der so lange gebohrt hatte, bis der Doktor, endlich weich gekocht, mit Onkel Paul — »ganz unverbindlich, Werner, wirklich ganz unverbindlich!« — nach Harpfing gefahren war, um sich die Dame einmal anzuschauen.
»Und das nennt sich Praxis!« knurrte der Doktor und begann den weißen Mantel aufzuknöpfen. In diesem Augenblick jedoch ertönte die Flurglocke. Das Signal kam zweimal. Aber das hatte nicht allzuviel zu bedeuten. Viele Leute hatten die üble Angewohnheit, zweimal zu läuten, obwohl unten am Türschild deutlich zu lesen stand: Kanzlei Dr. Alois Seehuber 1x — Dr. med. dent. Werner Golling 2x läuten! Trotzdem unterbrachen seine Hände ihre Beschäftigung, und sein Gesicht bekam einen lauschenden Ausdruck.
Die zweieinhalb Räume, in denen er seit sechs Wochen praktizierte, gehörten ursprünglich zur Kanzlei des Rechtsanwalts Dr. Seehuber, eines jungen Mannes, der im Vertrauen auf die vielfachen Rechtshändel der Welt allzu groß angefangen hatte und eines Tages recht froh gewesen war, zwei Zimmer und eine Kammer abtreten zu können, die der Doktor als Wartezimmer, Ordination und Labor eingerichtet hatte. Die jüngste Schreibkraft des Anwalts — er beschäftigte, was der Doktor für reine Geldverschwendung und Angabe hielt, zwei Stenotypistinnen und einen weiblichen Bürolehrling — hatte sich bereit erklärt, den Patienten des Doktors zu öffnen und sie anzumelden. Bislang hatte sie damit nicht viel Arbeit gehabt,
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