Ein reiner Schrei (German Edition)
ihnen hindurch.
»Heilige Jungfrau Maria«, keuchte Shell. Ihr Magen schlug Purzelbäume.
»Guck mal, Shell. Da!«
Sie hatten die Spitze des Bogens erreicht. Weiß brach die Sonne durch die Wolken und das Meer funkelte. Nun ging es vorwärts hinab, der Jahrmarkt stürzte ihnen entgegen. Und dort, am anderen Ende des Piers, immer weiter hinauslaufend, genau wie die Bibliothekarin es getan hatte, war die in Schwarz und Grün gekleidete Frau wieder, wie ein wandelndes Gedicht. Weiter und weiter lief sie und löste im Gehen ihren Schal. Shell blinzelte und kniff die Augen zusammen, wünschte, sie könnte besser sehen. Wuuuusch. Das Rad krempelte ihr Innerstes nach außen. Die Gestalt entfernte sich immer weiter. Shell reckte den Hals, genau in dem Moment, in dem die Frau sich umdrehte. Sie hatte die Hand erhoben, ihr Schal flatterte im Wind. Ihr Bild flackerte wie eine Flamme, wurde blasser und wehte hinaus auf die weiche Meerlandschaft, ihr Schal aus Chiffon wogte wie eine Welle, bis die Frau kaum mehr war als ein schmales Streichholz. Mum. Shells Seele schrie es heraus. Ein letzter Gruß. Aber sie ging, diesmal für immer, dorthin zurück, wo sie einst hergekommen war. Das letzte Flimmern verschwand und übrig blieb das Meer. Nichts als das Meer. In seiner ganzen Weite, riesig und schimmernd, rastlos, mit dem Himmel verschmelzend. Das hinübereilte zu einem anderen Kontinent. Das Rad drehte sich und dort war die Küste zu sehen, das Land, in der Ferne tauchten die dunklen Hügel auf. Menschen waren dort, Häuser, Geräusche. Die Lebenden und die Toten. Träume, Lachen und Tränen. Das Hier-und-Jetzt und das Danach. Bridie, mit blassen Wangen, die das Regenwasser von ihrem durchsichtigen Schirm schüttelte, während sie den Hang hinauflief. Pater Rose in Offaly, der sich in seinem Abendschatten verkroch und auf Gott wartete wie auf den Scheinwerfer eines Leuchtturms. Und Declan mit seiner Reimerei, im Führerhäuschen irgendeines Bulldozers, mit dem er die Großstadt umgrub. Mum. Mum in der Geisterwelt, Mum in ihrer Erinnerung, in ihrem Blut. Jimmy jodelte, als stünde er auf dem Gipfel der Alpen, seine Arme flogen über Shell und Trix hinweg. Sie stiegen und stürzten durch Himmelblau. Trix’ und Shells Haare schlangen sich ineinander wie verhedderte Drachenschweife. Trix, Jimmy und sie, eine schweigende Prozession, die sich den Acker hinaufbewegte und die Steine auflas. Immer zusammen. Frei. Mit Mums ewigem Licht, das auf sie herabschien. Und das Leben lag vor ihnen, umgab sie, sprühte aus allen Poren, während sie wuuuuuuuuuuuuh brüllten wie drei geistig umnachtete Eulen. Welche Lust, zu leben, welche Lust!
Danksagung
Ohne die großzügige Unterstützung meiner Schriftstellerkollegen und Freunde Tony Bradman, Fiona Dunbar und Lee Weatherly hätte ich diese Geschichte nicht schreiben können. Einen herzlichen Dank auch an Tony Emerson, Helen Graves, Síle Larkin, Rosarii O’Brien, Carol Peaker und Ben Yudkin. Meine Agentin Hilary Delamere hat mir mit ihrem klaren visionären Blick stets den Weg gewiesen, und mein Lektorenteam war eine reine Freude: David Fickling und Bella Pearson von David Fickling Books sowie Kelly Cauldwell, Annie Eaton und Sophie Nelson von Random House. Dank auch meiner lieben Mutter, die sich die Zeit nahm, so manchen Stein zu sammeln, und an Geoff, meinen so klugen und liebevollsten Kritiker.
Siobhan Dowd, in London geboren, stammt aus County Waterford, Irland, und verbrachte dort einen großen Teil ihrer Kindheit. Sie ging in London auf eine katholische Schule und studierte in Oxford. Dort lebte sie zusammen mit ihrem Mann Geoff, bis sie im August 2007, im Alter von 47 Jahren, an Krebs starb.
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