Ein reiner Schrei (German Edition)
und Tag und Nacht Besucher. Euer Kummer tut mir leid, hieß es immer wieder. Es wurde viel getrunken. Shell weinte nicht. Jedenfalls zuerst nicht. Es musste erst ein ganzes Jahr vergehen. Dann weinte sie lange und heftig, während sie an einem Novembertag, dem ersten Todestag, am Grab die Osterglocken setzte.
Je unwichtiger der Glaube für Shell wurde, desto wichtiger wurde er für Dad. Vor Mums Tod war er nur der Form halber mitgekommen, hatte am Hinterausgang der Kirche gestanden und mit den anderen Männern über den letzten Viehmarkt oder das letzte aufregende Spiel getuschelt. Mum hatte das nichts ausgemacht. Sie witzelte, man könne die Männer in zwei Gruppen einteilen: Entweder galt ihre Leidenschaft Gott, und Frauen bedeuteten ihnen nichts, oder ihre Leidenschaft galt den Frauen, und Gott bedeutete ihnen nichts. Wäre sie noch am Leben gewesen, sie hätte ihren Mann nicht wiedererkannt. Er war die Frömmigkeit in Person. Dad hatte den Fernseher verkauft, mit der Begründung, er sei ein Werkzeug des Teufels. Er hatte nun Mums Rolle übernommen und betete mit Shell, Jimmy und Trix jeden Abend zehnmal den Rosenkranz, außer mittwochs und samstags, wenn er nach seinem Sammeltag direkt in Stack’s Bar einkehrte. Seine Arbeit auf dem Hof der Duggans hatte er aufgegeben. Er wolle sein Leben nun Gott widmen, sagte er.
An diesem Tag brüllte er fast. Racheengel, einstürzende Tempel und falsche Götter hallten durch die kleine Kirche, dass es einem in den Ohren dröhnte. Mrs McGrath rutschte der Hut vom Kopf, als durch die Wucht des Wortes Donner mit einem schrillen Fiepen das Mikrofon aussetzte. Dads Augen flackerten. Einen kurzen Moment lang war er abgelenkt, hob den Kopf und starrte geistesabwesend in die Gemeinde, irgendwohin, ohne wirklich jemanden zu sehen. Seine Hände umklammerten die Ränder des Chorpultes. Shell hielt den Atem an. Hatte er den Faden verloren? Nein. Er sprach weiter, aber das Feuer seiner Rede war erloschen. Jimmy versetzte der Bank einen Fausthieb, dass es nur so polterte, als Dad stammelnd zum Ende kam.
»So … spricht … der … Herr«, sagte er mit schleppender Stimme.
»Dank sei Gott dem Herrn«, antwortete die Gemeinde im Chor. Und Shell meinte es ausnahmsweise so. Dad war fertig. Jimmy grinste frech, rollte das Gesangsblatt zu einem Fernrohr und verrenkte sich, um die Leute auf der Empore ins Visier zu nehmen. Trix rollte sich auf dem Fußboden zusammen, den Kopf auf die Kniebank gebettet. Dad stieg vom Altar herunter. Alle erhoben sich. Shell wandte den Blick ab, als er schleppenden Schrittes zu ihr herüberkam und sich neben sie stellte. Bridie Quinn, ihre Schulfreundin, sah sie an. Sie hatte zwei Finger an ihrer Schläfe und machte kreisende Bewegungen, als wollte sie sagen: Dein Dad ist verrückt. Shell zuckte mit den Schultern, wie um zu antworten: Ich kann nichts dafür. Alle warteten darauf, dass Pater Carroll das Evangelium lesen würde. Er war alt, hatte einen krummen Rücken und eine sanfte, singende Stimme. Wenn seine Worte auf einen herabrauschten, konnte man friedlich vor sich hin träumen.
Es entstand eine lange Pause.
Draußen verstummte der Wind. Krähen schrien.
Es war nicht Pater Carroll, der ans Mikrofon trat, sondern der neue Kurat, Pater Rose. Er hatte gerade erst sein Priesterseminar beendet, oben in den Midlands, hieß es. Es war sein erster öffentlicher Auftritt. Shell hatte bislang nur gesehen, wie er an Pater Carrolls Seite schweigend die Rituale verrichtete. Gespannte Aufmerksamkeit machte sich breit.
Pater Rose stellte sich ans Chorpult, den Blick gesenkt, und begann mit einem konzentrierten, leichten Stirnrunzeln in der Bibel zu blättern. Er war ein junger Mann, mit vollem Haar, das nach oben stand wie Farnkraut. Sein Kopf war zur Seite geneigt, als dächte er über einen bestimmten Aspekt der Theologie nach. Als er die richtige Stelle gefunden hatte, richtete er sich auf und lächelte. Es war ein Lächeln, das in alle Richtungen ausstrahlte, zu jedem Einzelnen. Aber Shell hatte das Gefühl, dass er nur sie angelächelt hatte. Sie hörte, wie er Luft holte.
»Am nächsten Tag, da sie Bethlehem verließen …«, begann er.
Seine Stimme war ruhig und ausdrucksstark. In seinen Worten schwang ein neuer Tonfall, ein Akzent aus einer anderen Gegend, einer reicheren Gemeinde. Er las die Worte, als hätte er sie selbst geschrieben, erzählte die Geschichte, wie Jesus die Tische der Geldverleiher umgeworfen hatte, draußen vor dem Tempel. Jesus
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