Ein reiner Schrei (German Edition)
getan, was er von mir verlangte: dem heiligen Ruf zu folgen.«
»Und jetzt zweifeln Sie vielleicht daran, dass er jemals wieder kommen wird.«
Pater Rose lächelte. »Vielleicht, Shell. Ich könnte seine Hilfe ganz gut gebrauchen.«
»Wenn Sie in Offaly sind, Pater, dann könnten Sie doch zu ihm beten statt zu Gott. Vielleicht ist er Ihnen näher. Vielleicht könnte er Ihnen sagen, was zu tun ist.«
Pater Rose dachte einen Moment nach. »Ich kann es ja versuchen.« Er wirkte nicht gerade überzeugt. Und als er die Zündung betätigte und Shell dieses eine Mal nichts dagegen gehabt hätte, dass die Technik versagte, sprang der Motor problemlos an. Pater Rose lächelte ein letztes Mal, die grauen Rasierschatten in seinem Gesicht verzogen sich. »Wir sehen uns sicher wieder, Shell«, sagte er. Seine Handflächen glitten kurz übers Lenkrad, die Räder rollten an. »Irgendwo auf dieser gottverlassenen Insel.«
Das Auto steuerte vom Rand auf die Straßenmitte zu. »Auf Wiedersehen, Shell. Gottes Segen.« Die Worte gingen irgendwo im Motorengeräusch unter. »Auf Wiedersehen, Pater Rose«, erwiderte sie flüsternd. Als der Wagen um die Kurve fuhr, schloss sie die Augen. Sie sah den Acker vor sich, das Grab, die Überbleibsel der gelben Absperrung, doch in der Mitte, umgeben von einem Lichterkranz, war Pater Rose, oder vielmehr die gähnende Lücke, die er hinterließ. Shell sah das Kruzifix, an dem niemand hing, dessen Stöhnen der Wind davontrug. Sie öffnete die Augen und starrte auf die Stelle, wo der violette Wagen in der Kurve verschwunden war. Sie konnte kaum glauben, dass er wirklich fort war. Genau dort erschien nun ein anderes Auto, ein schnittiger Estate: Mr Duggan, mit Dad an seiner Seite.
»Dieser Idiot von Kurat«, sagte Dad, als er ausstieg. »Wir wären fast zusammengestoßen.« Er schloss die Wagentür und lächelte. Shell presste die Lippen aufeinander und biss sich aufs Zahnfleisch. Sie nickte ihm zu. »Hi, Dad.«
»Shell«, sagte er, kam zu ihr herüber und breitete die Arme aus. »Schön dich zu sehen. Schön wieder zu Hause zu sein.«
Dreiundfünfzig
Dad war kein anderer Mensch geworden, nur schweigsamer. Statt nach Alkohol war er nun verrückt nach Karten und verbrachte die meisten Nächte unten im Dorf, um Fünfundvierzig zu spielen. Er las immer noch jeden Sonntag von der Kanzel wie ein geistig umnachteter Prophet. Und nach dem Abendessen ratterte er die Geheimnisse des Rosenkranzes herunter wie ein Zug, der durch die Nacht brauste. Er hörte auf Spendengelder zu sammeln und begann wieder mit der Landarbeit. Dazu gehörte, dass er in regelmäßigen Abständen über den Zustand seiner Knochen klagte und Unmengen von Schmerzmitteln schluckte. Shell hatte es nicht leicht mit ihm. Doch sie konnte ihn davon überzeugen, Mums uralte Zweierwanne durch einen moderneren Waschautomaten zu ersetzen. Als der Frühling nahte, säte sie draußen auf dem Acker Grassamen aus und installierte eine nagelneue Wäscheleine, ein Gestell, das sich auf- und zusammenklappen ließ wie ein Regenschirm und bei Wind im Kreis herumwirbelte. Den Steinhaufen ließ sie an seinem Platz. Er war wie ein Leuchtturm, der Unkraut und Flechten anzog.
Kurz nach der Abreise von Pater Rose las Pater Carroll eine Messe zur Beerdigung des kleinen Paul, wie das zweite Baby genannt worden war, und für Shells Baby. Sie log, als man sie nach dem Namen der Kleinen fragte. Weil sie jeden weiteren Tratsch vermeiden wollte, nannte sie den Namen Mary Grace statt Rose. Die Babys wurden in zwei kleinen Särgen auf dem Kirchhof bestattet, im hintersten Winkel für die armen ungetauften Seelen, die bis ans Ende aller Tage im Limbus ausharren mussten. »Dein Unglück tut mir leid«, sagte Mrs Fallon, die die Hände über ihrer Krokohandtasche gefaltet hatte. »Komm doch irgendwann auf ein Stück Kaffeetorte vorbei«, sagte Nora Canterville. Shell schüttelte ihre Hände und nickte, mit eingesaugten Wangen und gesenktem Blick, auf die dicken braunen Stützstrümpfe und geschwollenen Knöchel der beiden Damen starrend. O du mein Heiland, erspare mir solche Beine.
Auch Mrs Quinn nahm an der Messe teil, aber sie kam allein, nahm oben auf der Empore Platz und wechselte mit niemandem ein Wort. Sie beobachtete die Beerdigung vom Kirchenportal aus und ging, kaum dass die Gebete über dem Grab verstummt waren. Shell sah, wie sie den Hang hinaufschritt, mit gebeugtem Rücken. Außer Bridies Mutter war sie die Einzige, die wusste, dass man an diesem Tag
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