Ein Tag, zwei Leben
an! Freu dich. Wenigstens sieht das Kleid heute Abend hübsch an dir aus.
Um sieben gab ich das mit dem Schlafen auf und nahm eine ausgiebige Dusche. Danach fühlte ich mich eher wieder wie ich selbst. Na ja, wie dieses Ich jedenfalls – das, das ich in dieser Welt sein musste. Nur um sicherzugehen, bewegte ich mich langsam. Gönnte mir ein wenig zusätzliche Zeit. Normalerweise duldete ich das nicht – armseliges Herumtrödeln –, aber heute nahm ich meine Umgebung bewusster wahr. Mein riesiges Himmelbett mit der rosafarbenen Seidenbettwäsche und den Kissenstapeln. Ich schritt daran vorbei und meine Zehen sanken in den flauschigen cremefarbenen Teppich. Auf dem Weg zu den großen Glastüren ließ ich meine Finger über das üppig lackierte Bettgestell aus Walnussholz gleiten. Ich zog die cremefarbenen Vorhänge auf, befestigte sie sorgfältig mit ihrer Schleife an der Wand und öffnete die Türen zu meinem kleinen georgianischen Balkon.
Zu Hause. Alles ist genau so, wie es sein sollte.
Ich holte tief Luft und saugte die kleinstädtische Luft von Wellesley ein. Das gehörte zu den besten Dingen hier – die saubere Luft. Sie unterschied sich in jeder Hinsicht von Roxbury – sie war dünner, frischer, und dann war da noch dieser Geruch: frisch gemähtes Gras in der Sonne. Ich liebte diesen Duft. Der heutige Tag würde mal wieder typisch sein für Massachusetts: heiß mit wahrscheinlich einem Gewitter am Nachmittag.
Ich hatte gerade die Augen geschlossen, um das alles in mich aufzunehmen, als eine schrille Autohupe mich beinahe aus der Haut fahren ließ.
Ich blickte auf die Einfahrt hinunter. Mein ältester Bruder Ryan stand neben seinem Porsche-Cabrio im Retrostil, einen Fuß im Wagen, den anderen draußen.
» Wenn du mitfahren willst, dann beeil dich. Ich muss zurück ins College«, rief er, und er blickte zu mir hoch, als würde er am liebsten einfach ins Auto steigen und losfahren. Aber bei unserem Donnerstagsdinner mit Dad hatte dieser Ryan angewiesen, mich heute Morgen zur Schule zu bringen, weil mein kleiner Audi zum Reifenwechsel in der Werkstatt war. Was Ryan anbelangte, so erfüllte er seine Familienpflichten, indem er sich pro Monat ein paar Tage zu Hause blicken ließ. Das, und allein das, rechtfertigte offenbar ein überaus großzügiges Taschengeld, das er sinnlos verprasste, während er sich halbherzig durch die Harvard Business School schlug.
» Hallo! Erde an Sabine! Du bist noch nicht mal angezogen«, sagte er genervt.
Ich zeigte ihm grazil den Mittelfinger und schenkte ihm ein eindeutig falsches Lächeln. » Da wirst du wohl einfach warten müssen, Ry. Ich komme runter, so schnell ich es schaffe.« Sobald ich mich von ihm abgewandt hatte, erlosch mein Lächeln. Ich hatte mich wie ein Miststück aufgeführt. Ich wusste nicht genau, wann Ryan und ich in diese Art von Rollenverhalten gerutscht waren, aber irgendwann war es zur Norm geworden. Alles Teil des Programms, den Erwartungen Wellesleys zu entsprechen.
Ich zog mich an und frisierte mich. Als ich fertig war, blickte ich anerkennend in den bodenlangen Spiegel. Einfach, und doch schick. Ein blau karierter Rock mit hohem Bund, der direkt über dem Knie endete, zusammen mit einem weißen Seidenoberteil mit Cap-Ärmeln und grauen Schuhen mit Keilabsatz. Nach ein wenig Puder und einem Hauch Lipgloss schnappte ich mir meine Balenciaga-Tasche und schritt die Marmortreppe ins Foyer hinunter, wo mich meine Mutter erwartete.
Sie sah mir zu, wie ich die letzten Stufen nahm, und wartete dann ab, bis ich eine SMS von Miriam gelesen hatte, die mich zum Grinsen brachte. Als ich ihr schließlich meine volle Aufmerksamkeit schenkte, lächelte sie. » Denk daran, deine Freunde daran zu erinnern, dass heute Abend auf der Party nicht getrunken wird.« Sie hatte einen cremefarbenen Anzug und karamellfarbene Schuhe an, jedes Detail war mit Bedacht gewählt: das natürliche, schmeichelhafte Make-up, die locker hochgesteckten Haare und die erlesenen Accessoires.
» Ja, Mom. Alle wissen, was du davon hältst, wenn Minderjährige Alkohol trinken.« Weshalb alle, die trinken, im Poolhaus herumhängen werden, für den Fall, dass jemand kommt und herumschnüffelt.
Sie lächelte, trat einen Schritt vor und musterte mein Outfit. » Das ist ein hübscher Rock, Liebes. Schottenkaros erleben in dieser Saison in der Tat ein Comeback.« Sie strich mir nicht vorhandene Fussel von den Schultern und betrachtete mich noch einmal nachdenklich von oben bis unten.
» Aber
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