Ein Tag, zwei Leben
so oft?«, fragte ich, als ich den Zustand des Jeeps bemerkte.
Er zuckte mit den Achseln. » Ich wohne ganz in der Nähe, deshalb benutze ich ihn selten. Levi erlaubt, dass ich ihn hier parke.«
Ich stieg ein, und bevor ich es mich versah, fuhren wir durch Boston. Die Erleichterung war so enorm, dass ich geradezu aufstöhnte.
» Was ist los?«, fragte er; sein Blick wanderte zwischen der Straße und mir hin und her.
» Ach nichts. Ich liebe Auto fahren – die Freiheit. Mir gefällt der Gedanke, dass du eines Tages dein ganzes Zeug ins Auto packen und so lange fahren kannst, bis du anhalten willst.«
Er nickte, als würde er das vollkommen verstehen.
Ich war mir nicht sicher, wohin wir fuhren, bis er an der Arlington Street parkte. » Public Garden?«
Er lächelte, sprang aus dem Wagen und kam herüber, um mir die Tür aufzumachen. Der Boston Public Garden gehörte zu den Parks in der Innenstadt. Ich war noch nie dort gewesen; er wurde vor allem von Touristen besucht oder von Leuten, die im Stadtzentrum arbeiteten und ihre Mittagspause dort verbrachten.
Ich folgte Ethan über das hüfthohe Tor in den Park. Bei einer riesigen Trauerweide am See blieb er stehen und machte sich daran, eine Decke auszuschütteln.
» Allzeit bereit«, neckte ich ihn, als ich merkte, dass er eine ganze Tasche voller Sachen dabeihatte.
» Ich komme oft hierher.«
Ich sah mich um. » Ist es hier nicht gefährlich?«
Er packte seine Sachen aus, eine Flasche Wasser und eine Tüte Kartoffelchips. » Es gibt hier ein paar Obdachlose, aber ich gebe ihnen hin und wieder ein wenig Geld oder etwas zu essen, dann lassen sie mich in Ruhe. Wir sind hier sicher.«
Allerdings sah es so aus, als hätten wir den Park für uns allein. Es war wundervoll – die Lichter der Stadt spiegelten sich im See und warfen Lichtpunkte auf das kräftig grüne Laub der Trauerweide, deren Zweige die Wasseroberfläche streiften. Die berühmten Schwanenboote, die die Touristen anzogen, waren die Nacht über vertäut, die geschwungenen Hälse der Schwäne waren uns zugewandt und die schimmernden weißen Lampen über der Fußgängerhängebrücke vollendeten die märchenhafte Wirkung. Und da war ich nun, mitten in Boston. Mit Ethan. Und dann überkam mich das seltsamste aller Gefühle: Diese Szene gehörte in keines meiner beiden Leben. Und doch fühlte es sich … richtig an.
Er bedeutete mir, mich zu setzen, und ich merkte, dass er derjenige war, der aussah, als würde er eine Decke brauchen. Seine Augen waren dunkel und er sah müde aus.
» Geht es dir nicht gut?«, fragte ich.
» Doch. Ich habe nur schlimme Migräneanfälle. Es ist nervig, dauernd sagen mir alle, ich soll mich ausruhen.« Er blickte über den See, auf dem eine Entenfamilie vorbeipaddelte.
» Vielleicht war das doch keine so gute Idee.«
Er lächelte, und mir stockte der Atem, als das Licht in perfektem Winkel auf sein Gesicht traf. Es wurde immer schwieriger, die Tatsache zu ignorieren, dass er absolut umwerfend war.
» Du glaubst also, ich wäre besser dran, wenn ich in die fluoreszierenden Lichter der Klinik starren würde, wenn ich Kopfschmerzen habe?«, sagte er und sah belustigt aus, als er merkte, wie ich ihn anstarrte.
» Wahrscheinlich nicht.« Ich wandte meinen Blick ab und lehnte mich auf meine Ellbogen zurück. » Bekommst du keine Schwierigkeiten, wenn uns jemand erwischt?«
» Wahrscheinlich schon.«
» Beunruhigt dich das nicht?«
» Ich glaube, dass es Wichtigeres gibt, als immer nur die Regeln zu befolgen.« Er sah mich an, eine Augenbraue hochgezogen. » Außerdem scheinst du ohnehin nicht in irgendwelche Regelwerke zu passen.«
Ich wurde rot, erfreut darüber, dass er mich nicht nur als einen Patienten betrachtete. » Was machst du tagsüber so?«, fragte ich, während ich herumrutschte, um es mir bequemer zu machen.
Er legte sich neben mich und verschränkte die Arme unter dem Kopf. » Dies und das.«
» Das ist ziemlich vage. Familie? Freunde?«, fragte ich, begierig darauf, mehr über ihn zu erfahren.
» Keine Geschwister, und ich verbringe fast die ganze Zeit in der Klinik, deshalb sind wohl die meisten meiner Freunde dort. Ich habe noch Kontakt zu ein paar Freunden vom College, aber nicht mehr so viel, wie ich mir wünschen würde.«
Ich war überrascht, dass er so isoliert war, aber irgendwie fühlte ich mich ihm dadurch nur noch verbundener. Trotzdem konnte ich nicht umhin zu glauben, dass Ethan seine eigenen Geheimnisse hatte. » Eltern?«, fragte
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