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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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sein, Saba-dschan«, sagt ihre Mutter, die beschlossen hat, eine unausgesprochene Frage zu beantworten. »Ich weiß, die Nachbarn sagen, ich bin eine schlechte Mutter, weil ich deine Sicherheit unnötig aufs Spiel setze. Aber es ist nicht unnötig! Ich gebe dir viel mehr, als sie ihren Kindern geben.«
    Schon bald sind sie im hektischen Flughafen von Teheran. Ihr Vater geht mit raschen, wütenden Schritten voraus. »Sieh dir bloß an, was du aus unserer Familie gemacht hast, die reinste Katastrophe«, sagt er barsch. »Meine Töchter –« Er bleibt stehen, räuspert sich und lenkt ein. Ja, so ist es am besten, am sichersten. Ja, ja. Er geht mit dem Gepäck weiter. Saba spürt, wie ihre Mutter ihre Hand drückt.
    Saba ist seit Monaten nicht mehr in Teheran gewesen. Als die Islamische Republik anfing, Veränderungen durchzusetzen, ist Sabas Familie in ihr großes Haus auf dem Land gezogen – in Cheshmeh, einem friedlichen Dorf, wo die Menschen vom Reisanbau leben, wo es keine Proteste gibt, wo keine wütenden Horden durch die Straßen toben und die Menschen den großzügigen Hafezis trauen, weil die Familie in der Gegend tief verwurzelt ist. Obwohl es in einigen Dörfern mit ihrer schreckenerregenden Mullah-Justiz für eine christliche Familie gefährlicher ist als in den großen Städten, hat sie in Cheshmeh niemand behelligt, weil die konservativen, schwer arbeitenden Bauern und Fischer des Nordens bei den
pasdars
kein großes Interesse erregen und weil Sabas Vater ein guter Lügner ist und neugierige Nachbarn beschwichtigt, indem er Mullahs und Leute aus der Stadt in sein Haus einlädt. Saba versteht nicht, was sie alle so faszinierend an ihrer Familie finden. Schon allein Reza ist interessanter als alle Hafezis zusammen, und er hat seine ganzen elf Jahre in Cheshmeh gelebt. Er ist größer als die anderen Kinder, spricht den dör f lichen Dialekt, hat große runde Augen und warme Haut, die sie zweimal berührt hat. Wenn sie mal heiraten und dann mit Mahtab und ihrem gelbhaarigen amerikanischen Mann in ein Schloss in Kalifornien ziehen, wird sie Rezas Gesicht jeden Tag berühren. Er hat olivenfarbene Haut wie die Jungen in alten iranischen Filmen, und er mag die Beatles.
    Am Flughafen entdeckt Saba Mahtab in der Ferne. »Da ist sie!«, ruft sie, reißt sich von ihrem Vater los und läuft auf ihre Schwester zu. »Mahtab, hier sind wir!«
    An dieser Stelle verschwimmt die Erinnerung zu einem traumartigen Flickwerk aus Bildern. Als allgemein anerkannte Tatsache gilt, dass ihre Mutter irgendwann an diesem Tag verschwindet. Aber Saba erinnert sich nicht, wann das in dem ganzen Durcheinander aus Warteschlangen vor Sicherheitskontrollen und Gepäckabfertigung und
pasdar
-Befragungen passiert. Sie weiß nur noch, dass sie ihre Schwester ein paar Minuten später auf der anderen Seite der Halle sieht – wie das verschwundene Spiegelbild in einem gruseligen alten Märchenbuch –, an der Hand einer eleganten Frau in einem blauen Manteau, einem schweren, langen Mantel, genau wie der, den ihre Mutter anhat. Saba winkt. Mahtab winkt zurück und wendet sich ab, als wäre das das Natürlichste von der Welt.
    Als Saba zu ihnen laufen will, hält ihr Vater sie fest. Schreit.
Lass das! Lass das!
Was verbirgt er? Ist er böse, weil Saba diese Entdeckung gemacht hat? »Lass das, Saba. Du bist nur müde und durcheinander«, sagt er. In letzter Zeit haben viele Leute versucht, Dinge zu vertuschen, indem sie ihr einredeten, sie wäre durcheinander.
    Das Gedächtnis kann dem Verstand so manchen bösen Streich spielen – wie wenn man bei einem Videofilm das Band abwickelt und wieder aufwickelt, sodass es bloß noch ein paar verzerrte Bilder zeigt. Der nächste Teil der Erinnerung ist irgendwie ganz wirr. Irgendwann später ist ihre Mutter wieder da – obwohl sie doch eben noch Mahtab an der Hand hatte. Sie nimmt Sabas Gesicht zwischen zwei Finger und verspricht ihr wundervolle Tage in Amerika. »Bitte sei jetzt einfach still«, sagt sie.
    Dann stellt ein
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an einem Kontrollposten ihren Eltern ganz viele Fragen.
Wohin reisen Sie? Warum? Für wie lange? Verreist die ganze Familie? Wo wohnen Sie?
    »Nur meine Frau und meine Tochter verreisen«, sagt Agha Hafezi – eine bestürzende Lüge. »Und nur für kurze Zeit, um Ferien bei Verwandten zu machen. Ich bleibe hier.«
    »Mahtab kommt auch mit!«, platzt Saba heraus. Trägt der
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einen braunen Hut? Das kann nicht sein.
Pasdars
tragen keine Hüte mit richtiger Krempe. Und doch

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