Ein Teelöffel Land und Meer
Schwefelhölzern. Ganz gleich, wie groß ihr der Wagen ohne ihre Mutter und Schwester vorkommt, und ganz gleich, wie oft ihr Vater versucht zu erklären, dass sie nie wiederkommen, klammert sich Saba an den Glauben, dass mit der Welt alles in Ordnung ist.
Nothing’s gonna change my world
, singt sie während der ganzen Heimfahrt, und das ist den nächsten Monat über ihr Lieblingslied.
Kaum sind sie im Ort, versucht ihr Vater, ihr die erste Lüge einzureden.
Mahtab ist tot
. Sie sucht nach Anzeichen dafür, dass er sich das ausgedacht hat. Eine andere Erklärung gibt es nicht. Sein Gesicht ist ganz nervös, und seine Stirn schweißnass. »Wir wollten es dir nicht sagen, während du krank warst«, sagt er, und als sie nicht antwortet: »Hast du gehört, Saba-dschan? Leg die Blätter weg und hör mir zu.«
»Nein«, wimmert sie und hält ihre Liste mit englischen Wörtern noch fester. »Du lügst.«
Sie schwört, nie wieder ein Wort mit ihm zu reden, weil er das alles geplant haben muss. – Außerdem hat Saba von ihrer Mutter gelernt, dass es nur einem Menschen unter tausend möglich ist, die Wahrheit von etwas zu erkennen. Sie muss sich an das halten, was sie gesehen hat: eine Frau in der Halle jenseits der Flughafenlounge, eine elegante, stilvolle Frau mit dem ungebärdigen, unter dem Kopftuch hervorquellenden Haar ihrer Mutter, mit dem dunkelblauen Manteau ihrer Mutter und dem gehetzten Gesichtsausdruck ihrer Mutter, die ein ernstes, folgsames Mädchen an der Hand hielt, ein gespenstisch stilles Kind, das nur Mahtab sein konnte – das Mahtab
war.
Nein, sie ist nicht gestorben.
»Saba-dschan«, sagt ihr Vater, »hör auf deinen Baba. Du hast deine Freundin Ponneh. Sie wird wie eine Schwester für dich sein. Das ist doch schön, oder?«
Nein, sie ist nicht gestorben. Ich muss mir keine neue Mahtab suchen.
Da zu Hause keine Mahlzeit auf sie wartet, essen sie Kebabs am Straßenrand, starren wortlos auf die Decke aus Bäumen und Nebel, die das Meer verhüllt. Ihr Vater kauft ihr einen Maiskolben, den der Verkäufer schält und in einen Eimer mit Salzwasser wirft, sodass er zischt und tropft, den wunderbar brandigen Meerwassergeschmack einschließt. Während sie isst, verfestigt sich die Erinnerung, und die Lücken füllen sich von selbst – wie bei den Tieren in ihrem Biologiebuch, denen Körperteile nachwachsen können, eine Art Überlebenszauber –, bilden ein verständliches Ganzes: die verschwommenen Umrisse einer großen Frau in einem Manteau. Der magere elfjährige Geist eines Mädchens in Mahtabs Kleidung. Ist ihre Miene schuldbewusst? Hat sie ein schlechtes Gewissen, weil sie ihre Zwillingsschwester verrät? Dann die undeutliche, farblose Lounge mit ihren Massen an gesichtslosen Passagieren, die sich vorwärtsdrängeln, um ein Flugzeug nach Amerika zu besteigen.
Mahtab ist ohne mich nach Amerika geflogen.
Die Frage, wieso sie auf einmal in der Flughafenlounge war, ist noch immer rätselhaft. Wahrscheinlich haben ihre Eltern sie von Khanom Basir hinbringen lassen, damit Saba nicht zu früh merkt, dass nur Mahtab nach Amerika fliegen soll. Sie wollten ihre Gefühle schonen, weil sie sie verraten hatten und weil sie der weniger wichtige Zwilling ist. Vielleicht haben ihre Eltern auch eine Art Pakt geschlossen, damit jeder eine Tochter behält.
Die folgende Woche über versucht Saba, die rückgratlosen Erwachsenen von Cheshmeh dazu zu bringen, ihr die Wahrheit zu sagen. Wenn Mahtab tot ist, wieso hat es dann keine Beerdigung gegeben? Und wo ist ihre Mutter hin? Ihr Vater hat den Nachbarn bestimmt Geld gegeben, damit sie seine Lügen verbreiten. Mit Geld kriegt er alles, was er will, deshalb lässt Saba sich nicht täuschen von dem Trommelwirbel aus Tod und Ritualen und Trauer, der nun folgt. Das ist alles bloß ein Trick, den sich der reiche und mächtige Agha Hafezi ausgedacht hat, um seiner anderen, wertvolleren Tochter ein schöneres Leben bieten zu können – ein Leben, das sich Saba nur in Illustrierten und verbotenen Fernsehserien anschauen kann.
* * *
Einen Monat nach der einsamen Rückfahrt vom Flughafen versucht Saba zum dritten Mal zu beweisen, dass Mahtab lebt. Zusammen mit Ponneh Alborz, ihrer besten Freundin, und Reza Basir, in den sie beide verliebt sind, läuft sie von zu Hause fort. Ist doch egal, dass Rezas Mutter kreischen und toben und sie mit allen möglichen Beschimpfungen für böse Mädchen verwünschen wird. Hauptsache, ihre Freunde sind dabei. Sie überredet sie, per Anhalter
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