Ein Teelöffel Land und Meer
taucht in ihrer Erinnerung immer wieder dieser braune Hut auf.
»Wer ist Mahtab?«, schnauzt der
pasdar
, und das macht einem Angst, ganz gleich, wie alt man ist.
Ihre Mutter stößt ein unechtes Lachen aus und sagt etwas ganz Schreckliches. »So heißt ihre Puppe.« Plötzlich begreift Saba. Nur
eine
Tochter wird verreisen. Haben sie vor, Mahtab mitzunehmen und sie nicht? Haben sie sie deshalb die ganze Zeit auseinandergehalten?
Als sie anfängt zu weinen, beugt ihre Mutter sich zu ihr herunter. »Saba-dschan, weißt du noch, was ich dir erzählt habe? Dass man, wenn man leidet, ein Riese sein soll? Würde ein Riese vor den vielen Fremden hier weinen?« Saba schüttelt den Kopf. Dann legt ihre Mutter ihr eine Hand an die Wange und sagt etwas Heldenhaftes, das ihr guttut: »Du bist Saba Hafezi, ein Glückskind, das Englisch liest. Weine nicht wie eine Bäuerin, denn du bist nicht das Mädchen mit den Schwefelhölzern.«
Ihre Mutter hasst dieses Märchen – ein hil f loses, obdachloses Mädchen, das Streichhölzer vergeudet, um sich Tagträumen hinzugeben, anstatt ein richtiges Feuer zu machen, an dem es sich wärmen kann.
Du bist nicht das Mädchen mit den Schwefelhölzern
. An diesen Satz erinnert sich Saba noch genau. Dann ist ihre Mutter plötzlich verschwunden, und es folgt ein neues Wirrwarr von Bildern, die Saba sich nicht erklären kann. Sie erinnert sich an ein grünes Kopftuch. Einen Mann mit braunem Hut. Ihre Mutter in Warteschlangen und vor Fluggates. Saba, die von ihrem Vater wegläuft, Mahtab verfolgt, bis zu dem großen Fenster mit Blick auf die Flugzeuge. All diese Bilder sind mit einer diesigen Schicht Unsicherheit überzogen, mit der sie sich mittlerweile abgefunden hat. Die Erinnerung ist trügerisch. Doch ein Bild ist klar und sicher, und nichts und niemand wird sie je vom Gegenteil überzeugen. Nämlich dieses: ihre Mutter in einem blauen Manteau – nachdem ihr Vater behauptet hat, er hätte sie in dem Gedränge vor den Sicherheitskontrollen verloren –, wie sie in ein Flugzeug nach Amerika steigt und Mahtab an der Hand hält, die glückliche Zwillingsschwester.
Es liegt alles im Blut
Khanom Basir
S abas Erinnerung mag unscharf sein, meine ist es nicht. Und ja, ja, zu gegebener Zeit werde ich Ihnen alles erzählen. Geschichtenerzähler soll man nicht drängen. Wir Frauen aus dem Norden haben Geduld gelernt, weil wir den lieben langen Tag durch sumpfige Reisfelder waten und es gewohnt sind, nicht drauf zu achten, wenn es uns irgendwo juckt. Im ganzen Iran reden die Leute über uns, müssen Sie wissen … über uns
shomali
, die Frauen im Norden. Sie haben allerhand gute und schlechte Bezeichnungen für uns: Fischkopfesser, leichte Frauen mit zu viel Begehren,
dehati
. Ihnen fallen unsere weiße Haut auf und die hellen Augen, die Art, wie wir ihre städtischen Moden ablehnen und trotzdem die Schönsten sein können. Jedermann weiß, dass wir vieles können, was anderen Frauen nicht gelänge – Reifen wechseln, schwere Körbe durch Regengüsse tragen, Reis in gefluteten Feldern setzen und uns den ganzen Tag lang durch einen blättrigen Ozean aus Teesträuchern kämpfen – wir sind die Einzigen, die wirklich hart arbeiten. Die kaspische Luft macht uns stark. Diese Frische –
grüner
Shomal
, sagen sie,
nebliger, regnerischer
Shomal
. Und ja, manchmal verstehen wir es auch, uns langsam zu bewegen. Manchmal werden wir wie das Meer von unsichtbaren Lasten niedergedrückt. Wir tragen Körbe mit Kräutern auf dem Kopf, schwanken unter Koriander, Minze, Bockshornklee und Schnittlauch, und wir hetzen uns nicht. Wir warten, bis die Ernte die Luft durchdringt, unsere verstreut liegenden Häuser im Sommer mit dem warmen, feuchten Duft des Reises erfüllt und im Frühling mit dem Duft der Orangenblüte. Die besten Dinge brauchen Zeit, wie einen guten Eintopf kochen, wie Knoblauch einlegen oder Fisch räuchern. Wir sind geduldige Menschen, und wir versuchen, freundlich und anständig zu sein.
Und wenn ich nicht will, dass Saba Hafezi meinen Sohn Reza mit hoffnungsvollen Augen betrachtet, dann nicht, weil ich ein schwarzes Herz habe. Auch wenn Saba glaubt, ich hasse sie, auch wenn sie all ihre aufgestaute Mutterliebe der alten Khanom Omidi schenkt, sorge ich für dieses Mädchen, seit es die Mutter verlor. Trotzdem, bloß weil du einem Mädchen dienstags etwas zu essen kochst, heißt das noch lange nicht, dass du ihm deinen liebsten Sohn gibst. Saba Hafezi ist nicht die Richtige für meinen Reza,
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