Ein tüchtiges Mädchen
1
Als die Mittagspost kam, war der Brief von der Solfoss Holzimport AG das erste, worauf Gerds Augen fielen.
Endlich, endlich! Sie war so gespannt, als ob ihr selbst die Firma gehörte, die ganze Holzagentur Myrseth und Sohn. Erst gestern hatte der Seniorchef ihr wieder, und mindestens zum fünftenmal, gesagt, was es für ihn bedeuten würde, wenn die Lieferung zustande käme. Es drehte sich um ein Geschäft größeren Umfangs. Die Tausender spielten eine kleine Rolle in diesen Berechnungen.
In Hamburg saß Direktor Busch und hatte sozusagen alle Hände voll Buchenholz, ganze Wälder voll Buchenholz. Und wenn Solfoss wirklich die ganze Partie abnahm, so bedeutete das einen Riesenaufschwung für die Holzagentur Myrseth und Sohn.
Gerd streifte den Bürokittel ab und zog den Mantel an. Diesen Brief wollte sie nicht selbst öffnen. Allerdings war sie erst heute morgen im Krankenhaus gewesen, doch nun mußte sie eben den Weg nochmals machen, und zwar sofort.
Es war aber auch alles so schwierig wie nur möglich. Zunächst brach sich der Direktor ein Bein, und der Bruch war so kompliziert, daß er wochenlang im Streckverband liegen mußte. Aber Myrseth gehörte nicht zu denen, die sich dadurch außer Gefecht setzen lassen. Er hatte ein Einzelzimmer im Krankenhaus mit Telefon auf dem Nachttisch. Jeden Tag brachte Gerd die Post, saß an seinem Bett und stenografierte abwechselnd norwegisch, deutsch und englisch.
„Wenn ich Sie nicht hätte, Fräulein Elstö“, sagte Myrseth häufig. Der Direktor verlangte viel, sparte aber auch nicht mit Lob, wenn er zufrieden war, und das war meistens der Fall.
Dieses Krankenlager hatte bewirkt, daß Gerd viel selbständiger arbeiten mußte, als dies bei Antritt ihrer Stellung vorausgesetzt worden war. Den Juniorchef sah sie selten. Er war ausgebildeter Forstmann und ständig „draußen im Gelände“, wie sich der Senior ausdrückte, das heißt, er besichtigte die Holzbestände, ehe sie gefällt wurden, wenn sie noch frisch und grün in Gottes freier Natur standen.
Also blieb Gerd im Büro ohne wirkliche Hilfe, denn das kleine Fräulein Genz hatte wohl den besten Willen, aber nicht viel mehr. Unmöglich konnte man der Neunzehnjährigen eine selbständige Arbeit überlassen.
„Ich gehe zum Direktor“, erklärte Gerd. „Schreiben Sie die Telefonanrufe auf, und sagen Sie, daß ich gegen dreizehn Uhr wieder zurück bin.“
„Ja, Fräulein Elstö.“
Fräulein Genz hatte großen Respekt vor der tüchtigen älteren Kollegin. Zwar betrug der Altersunterschied nur fünf Jahre, aber Gerd verfügte über ein solides Fachwissen, denn sie hatte, wohlausgerüstet durch ihre Handelsschulausbildung, die Stellung bei Myrseth schon vor zwei Jahren angetreten.
Gerd legte den Brief von der Solfoss Holzimport AG zusammen mit dem Stenogrammblock und der anderen eingelaufenen Post in ihre Mappe, darunter auch einen Brief aus Hamburg. Es war begreiflich, daß Busch murrte. Er hatte wochenlang warten müssen und wurde nun ungeduldig. Aber hoffentlich – hoffentlich! – lag der Entscheid jetzt in dem weißen Umschlag mit dem Firmenaufdruck „Solfoss Holzimport AG“ in der linken Ecke.
Gerd ging rasch durch die Breite Straße, bog in die Lange Straße ein und stieg den Hügel hinauf zum Krankenhaus. Die Breite Straße war nicht breit und die Lange Straße nicht lang, aber nichts war breit oder lang oder groß hier in dieser kleinen südnorwegischen Stadt. Die Häuser waren klein, freundlich und weißgetüncht, mit Begonien auf den Fensterbrettern und blankgeputzten Türklinken. Der Dialekt war freundlich und weich und die Pflastersteine treuherzig gebuckelt. Die Luft in der Stadt schmeckte nach Salz und Meer.
„Sind Sie schon wieder da, Fräulein Elstö?“ fragte Schwester Mathilde. „Ich glaube, Herr Direktor Myrseth schlummert gerade ein bißchen…“
„Er wird rasch wach werden, wenn ich ihm diesen Brief vor die Augen halte“, lächelte Gerd. „Es muß schon außerordentlich wichtig sein, verstehen Sie, wenn ich eine Extratour hierherauf mache.“
Schwester Mathilde nickte. Gerd durfte zu allen Zeiten kommen, denn das kleine, idyllisch gelegene Krankenhaus war nicht mit allzu vielen Regeln und Einschränkungen belastet. Überdies war der Oberarzt ein Freund Myrseths und wußte, daß dieser in ständigem Kontakt mit seinem Geschäft stehen mußte.
Myrseth blinzelte etwas verschlafen, als Gerd eintrat.
„Na also, was ist denn los? Hat die kleine Genz Unterschlagungen
Weitere Kostenlose Bücher