Ein tüchtiges Mädchen
meinte die Baronin bekümmert.
Aber Solveig hatte den Gesichtsausdruck der Schwester gesehen, und sie kannte Gerd.
„Das glaube ich nicht, Baronin. Wenn sie nur verzeihen wollen, daß Gerd so einfach fortgelaufen ist, so glaube ich, wir lassen sie am besten in Frieden. Des Rätsels Lösung werden wir sicher bald erfahren. Wie gesagt, ich darf um Entschuldigung für meine kleine Schwester bitten…“
„Aber meine Liebe, das ist doch belanglos!“
Dann erschien Svensson mit dem Essen.
„Geliebte, geliebte kleine Gerd!
Diesen Brief sollst Du lesen. Erst wenn Du das getan hast, kannst Du über mich urteilen. Wenn Du ihn nicht beantwortest, werde ich Dich nie mehr belästigen. Aber, Gerd, Du mußt ihn lesen, um unserer Liebe willen bitte ich Dich darum. Denn ich liebe Dich, Gerd, liebe Dich mehr, als ich je geahnt habe, einen Menschen lieben zu können.
Es ist vier Tage her, seit wir voneinander schieden, vier Tage, seit ich die schmale, müde, kleine Gestalt im Menschengewühl am Kai verschwinden sah…
Jetzt werde ich berichten, und Du sollst selbst urteilen.
Erna fuhr direkt nach Oslo, wo sie wohnt. Der Himmel mag wissen, wie sie überhaupt für diese Tour freibekommen hat, denn sie übt so eine Art Tätigkeit als Maschinenschreiberin aus. Jedenfalls mußte sie nun zurück. Und ich machte mich frei und reiste ihr nach. Jetzt sitze ich in einem Hotelzimmer, mitten in Oslo. Erna und ich haben in Frieden und beinahe verständnisvoll voneinander Abschied genommen, und dies für immer, Gerd. Und nun kann ich es endlich frei heraussagen: Ich liebe Dich, ich gehöre Dir, und ich habe keine Verpflichtungen, gegen niemand in der Welt. Aber Du hast das Recht, die ganze Geschichte zu kennen.
Ernas Vater war Kapitän auf der ,Annette’, auf der ich als Zweiter Offizier fuhr. Er war mir ein väterlicher Freund, freundlich und gut.
Wir verstanden einander und hatten manchen Strauß gemeinsam ausgefochten, wie man so sagt.
Vor zwei Jahren wurde er krank und starb an Bord. Wir waren auf hoher See inmitten des Pazifiks und versenkten ihn im Meer. Bevor er starb, bat er mich, seine Tochter Erna aufzusuchen, die sein Augapfel, sein Herzenskind war. Ernas Mutter war schon lange tot, und sie wohnte bei ihrer Großmutter väterlicherseits.
Kapitän Böe kannte seine eigene Tochter im Grunde nicht. Er war nur selten daheim, und wenn es geschah, dann war es ein Fest. Da strahlte Erna vor Freude über die Geschenke, die er mitbrachte, und sie plauderte und zwitscherte und war Papas liebes kleines Mädchen.
Darum dachte Kapitän Böe, sie sei ein hilfloser kleiner Vogel, abhängig von Papa und Papas Güte, und seine Darstellung hinterließ auch bei mir diesen Eindruck.
Wir kamen nach Norwegen zurück, und ich trat den schweren Gang zu Erna und ihrer Großmutter an. Sie waren ja telegrafisch unterrichtet worden, aber sie würden natürlich mehr von der Krankheit und dem Todesfall hören und auch seine letzten Grüße empfangen wollen.
Es war schlimm, die verweinte alte Mutter zu sehen, die um ihren Sohn trauerte, und das kleine Mädel mit den rotgeweinten Augen, das heftig zu schluchzen begann, als ich ihr des Vaters letzte Botschaft überbrachte.
Ich blieb lange bei den beiden Frauen. Sie klammerten sich förmlich an mich, der ihm die Augen geschlossen und ihm so nahegestanden hatte.
Erna schrieb mir, und ich schrieb zurück. Die kleinen hilflosen, unglücklichen Briefchen rührten mich. Bei erster Gelegenheit besuchte ich sie wieder.
Jetzt, Gerd, sollst Du versuchen zu verstehen. Verstehen, wie ein Mann, auf Grund langer Abwesenheit von daheim, wechselnder Umgebung und eines unruhigen Lebens eine Art von Geborgenheit fühlen kann bei zwei Frauen, einer jungen und einer alten, die alles tun, um es ihm behaglich zu machen. Du fragst jetzt vielleicht, ob meine Mutter das nicht auch tut? Doch, ganz bestimmt. Aber sie wohnt weit von hier. Als Vater starb, zog sie zu ihrer Schwester nach Drontheim. Ich sehe sie also selten, aber nach Oslo komme ich oft.
Jetzt sollst Du verstehen, wie ich unter diesen Verhältnissen Güte und Mitleid mit Liebe verwechseln konnte.
Es spielte wohl auch eine Rolle, daß Ernas Großmutter so besorgt um Ernas Zukunft war. ,Was soll aus ihr werden, wenn ich nicht mehr bin?’ war ihre ständige Frage.
Da sagte ich eines Tages, sie solle sich keine Gedanken darum machen, denn ich würde mich Ernas annehmen.
Ja, und da verlobten wir uns also.
Im Anfang war es nett, in jedem Hafen einen Brief
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