Ein tüchtiges Mädchen
Es scheint, du hast etwas Schreckliches von mir gehört. Ja, ich sprang dann heute früh in den Zug und wurde hier am Bahnhof von einem fabelhaften Mann und einem fabelhaften Auto abgeholt. Übrigens – bist du verlobt mit dem jungen Michael?“
„Nein, keine Spur.“
„Dann verstehe ich überhaupt nichts mehr! Schön, ich wurde also mit Dank und Lobesworten empfangen, weil ich erschien. Mensch, was für ein Haus! Gerd, was für ein Haus! Dem Himmel sei Dank für deine Krankheit! Ach, Verzeihung, so meinte ich es natürlich nicht, aber so hatte ich doch Gelegenheit, dies alles hier zu sehen. Nicht nur zu sehen, sondern auch in den Räumen nach Herzenslust herumzugehen. Und hier hast du nun beinahe vierzehn Tage gewohnt!“
„Ja, denke mal!“
„Ja, ich denke, daß du ein Glückspilz bist. Aber was willst du eigentlich von mir, daß du im Fieber dauernd nach mir gerufen hast, bis von Oslo her…?“
„Ich weiß es nicht, Solveig. Habe nicht die geringste Ahnung.“
„Na, dann möchte ich wissen, warum ich nun eigentlich gekommen bin?“
„Ich auch. Aber es ist wirklich nett, dich hier zu haben, Solveig. Wir werden später miteinander weitersprechen, jetzt bin ich so entsetzlich müde…“
Gerds Lippen zitterten plötzlich.
„Herrje Schwesterchen, du weinst doch nicht etwa?!“
„Ja… aber nur, weil ich so müde bin. Ich kann nicht mehr sprechen, bitte geh jetzt, Solveig. Ich werde klingeln, wenn ich… Jetzt aber sei so gut und geh…“ Das Weinen übermannte Gerd.
Solveig blieb einen Augenblick stehen: Die kleine Schwester sah so dünn aus, so durchsichtig und blaß.
„Also du klingelst, wenn du etwas willst?“
„Ja…“
„Na schön. Ich glaube wirklich, man läßt dich jetzt besser allein!“
Damit ging Solveig.
Gerd entspannte sich. Es war gut, allein zu sein, gut, den Tränen freien Lauf lassen zu können. Sie tastete nach dem Taschentuch auf dem Nachttisch. Dabei berührte ihre Hand etwas Anderes. Sie griff danach und sah es an: Es war die Katze Dorette.
Dorette. Sieben kleine Buchstaben.
Ernette. Sieben kleine Buchstaben.
Gerd nahm das Taschentuch und vergrub ihren Kopf im Kissen.
19
Die Herbstsonne schien in den Wintergarten, wo die Wellensittiche zwitschernd im Bauer herumhüpften. Es war der hellste und schönste Raum des Hauses, fand Gerd, während sie in einem bequemen Lehnstuhl am Fenster saß.
Sie hatte es jetzt aufgegeben zu protestieren. Die Familie Silfverkranz zeigte eine so echte und aufrichtige Freude, sie und Solveig bei sich zu haben, daß die Proteste nachgerade ersterben mußten.
„Wenn ich jemals froh darüber war, keine feste Arbeit zu haben“, versicherte Solveig, „so ist das jetzt der Fall. Denk bloß, wenn ich nun an eine Architektenfirma gebunden gewesen wäre und nicht hätte kommen können! Also Gerd, du ahnst ja nicht, was ich aus dieser Küche machen werde. Das ist wirklich das Allerneueste, das mir je vor Augen gekommen ist!“
Solveig würde von Neujahr an eine feste Stellung haben, aber vorderhand war sie frank und frei, und der Baron hatte ihr in vollem Ernst den Auftrag gegeben, die altmodische Küche zu modernisieren.
Die Freude war mit Gerd ins Haus gekommen, mit der sanften, freundlichen Gerd, aber Lustigkeit, Leben, sozusagen eine fröhliche Unruhe, war mit Solveig eingezogen.
Und Michael, der im Zusammensein mit Gerd fröhlich und zufrieden gewesen war, taute nun vollends auf. Sein Gesicht strahlte beständig, und er lachte oft. Die Eltern hoben den Kopf und lauschten, wenn dieses frohe Gelächter durch die großen Zimmer von Högalind klang.
Gerd wußte nur allzu genau, daß Solveig witziger und lebhafter war als sie. Sie verstand es durchaus, daß sowohl Michael als auch seine Eltern von Solveig begeistert waren.
Ach ja, sie hatte nach und nach allerhand verstehen gelernt. Sie war sich darüber klargeworden, daß die Freude über ihr eigenes Erscheinen auf Högalind nicht so sehr ihren persönlichen Eigenschaften zuzuschreiben war als der Tatsache, daß sie etwas Neues vertrat, etwas anderes, etwas, das Michael eine Welt vergessen lassen konnte, in der seine Eltern ihn so ungern sahen.
Mit Solveig war das etwas anderes. Es war mehr, vielleicht etwas Positiveres. Von Solveig waren sie um ihrer selbst willen begeistert. Gerd stellte das ohne alle Bitterkeit fest. Sie selbst war die erste, die den Charme ihrer Schwester anerkannte.
Muntere Stimmen klangen vom Garten herauf, und Gerd lehnte sich vor, um zu sehen. Da
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