Ein unbezaehmbarer Verfuehrer
hatte, hatte sie gewusst, dass sie alle Brücken hinter sich abbrechen musste. Um das Wohl der Kinder willen durfte Lister sie niemals finden. Mit Lady Vales Hilfe war es ihr gelungen, London in einer geliehenen Kutsche zu verlassen. Bei der erstbesten Gelegenheit hatte sie die Kutsche gewechselt und eine andere gemietet; so hatte sie es während der ganzen Reise gehandhabt. Sie hatte die viel befahrenen Hauptstraßen gemieden und versucht, so wenig Aufmerksamkeit wie möglich zu erregen.
Es war Lady Vales Idee gewesen, dass Helen sich als Sir Alistairs neue Haushälterin ausgeben solle. Castle Greaves lag abgeschieden und fernab aller vornehmen Gesellschaft. Lady Vale war sich sicher gewesen, dass Lister niemals auf die Idee käme, Helen dort zu suchen. So gesehen war Sir Alistairs Burg das perfekte Versteck. Nur fragte sie sich, ob Lady Vale überhaupt ahnte, wie heruntergekommen hier alles war.
Oder wie stur der Burgherr sich stellen würde.
Immer schön ein Schritt nach dem anderen. Ihr blieb keine andere Wahl. Woanders konnte sie nicht hin. Sie hatte sich entschieden hierherzukommen, jetzt musste sie es durchstehen. Kaum auszudenken, was geschehen würde, wenn ihr Vorhaben scheiterte.
Jamie sprang, rutschte ab und landete in einer riesigen Staubwolke auf dem Boden.
„Hör jetzt bitte auf damit!", fuhr Helen ihn an.
Beide Kinder machten große Augen. Es kam nicht oft vor, dass sie ihnen gegenüber die Stimme erhob. Bislang war das auch nicht nötig gewesen, hatte es doch bis vorige Woche ein Kindermädchen gegeben, das sich darum kümmerte. Helen hatte die Kinder nur gesehen, wenn sie es wollte: beim Zubettgehen, nachmittags zum Tee, bei Spaziergängen im Park. Anlässe, bei denen sie alle drei gut gelaunt waren. Wenn Abigail und Jamie müde wurden oder zu quengeln anfingen, hatte sie jederzeit die Möglichkeit gehabt, die beiden wieder Miss Cummings zu überlassen. Leider musste auch Miss Cummings in London zurückbleiben.
Helen atmete tief durch und versuchte sich zu beruhigen. „Es wird Zeit, dass wir uns an die Arbeit machen."
„Was denn für Arbeit?", wollte Jamie wissen. Er stand auf und trat nach einem Kissen, das beim Spiel auf den Boden gefallen war.
„Sir Alistair hat doch gesagt, dass wir gleich heute früh wieder gehen müssen", erinnerte Abigail sie.
„Ja, aber wir werden ihn vom Gegenteil überzeugen."
„Ich will nach Hause!"
„Wir können nicht nach Hause, Schatz. Das habe ich euch doch schon erklärt." Helen lächelte aufmunternd. Natürlich hatte sie den beiden nicht gesagt, was Lister tun würde, wenn er sie fände. Sie wollte den Kindern ja keine Angst machen. „Sir Alistair braucht jemanden, der hier mal gründlich putzt und alles in Ordnung bringt, meint ihr nicht auch?"
„Hmmm", machte Abigail. „Aber er hat doch gesagt, es würde ihm so gefallen."
„Unsinn! Niemandem gefällt es, so zu leben. Wahrscheinlich traut er sich nur nicht, um Hilfe zu bitten. Außerdem verlangt es unsere Christenpflicht, dass wir den Bedürftigen helfen, und mir scheint, Sir Alistair ist sehr bedürftig."
Abigail sah sie skeptisch an.
Munter klatschte Helen in die Hände, ehe ihre allzu aufmerksame Tochter noch weitere Einwände anbringen konnte. „Wir gehen jetzt nach unten und lassen für Sir Alistair ein ordentliches Frühstück bereiten, und bestimmt findet sich auch eine Kleinigkeit für uns. Danach sehen wir weiter."
Bei der Aussicht auf Frühstück hellte Jamies Miene sich wieder auf. Helen öffnete die Tür und scheuchte die beiden energisch hinaus — doch dann standen sie etwas ratlos in dem schmalen Korridor und wussten nicht so recht, wohin.
„Ich glaube, wir sind gestern aus dieser Richtung gekommen", sagte sie und marschierte forsch nach rechts.
Wie sich zeigen sollte, war es der falsche Weg, aber nachdem sie eine Weile herumgeirrt waren, gelangten sie schließlich doch ins Erdgeschoss, wo irgendwo auch die Küche sein musste.
Plötzlich Abigail blieb stehen. „Muss ich ihn begrüßen?"
„Wen meinst du?", fragte Helen, obwohl sie es nur zu gut wusste.
„Sir Alistair."
„Abigail hat Angst vor Sir Alistair!", johlte Jamie.
„Hab ich nicht", entgegnete seine Schwester heftig. „Zumindest nicht sehr. Es ist nur ..."
„Dass er dir einen Schreck eingejagt hat und du geschrien hast", schloss Helen. Sie ließ ihren Blick über die fleckigen Wände schweifen und überlegte, was sie ihrer Tochter sagen sollte. Abigail konnte so empfindlich sein! Bei der leisesten
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