Song of the Slums
• PROLOG •
»Nein! Warte einen Moment«, rief Verrol verzweifelt. »Sie ist auch eine talentierte Musikerin. Besser als ich.«
Granny Rouse glaubte ihm offensichtlich kein Wort. »Na, dann lass mal hören.«
»Komm runter!«
Astor hatte keine Wahl, obgleich sie wusste, dass es nicht funktionieren würde. Sie hatte vielleicht Talent, aber nicht mit
diesen
Instrumenten.
Sie rutschte die Böschung hinab und gesellte sich zu den Musikern. Als der junge Strumgitarrist ihr seine Gitarre anbot, schüttelte sie den Kopf.
»Die kann ich nicht spielen.«
»Ist wie eine Harfe«, sagte Verrol.
Was er sagte, war absurd! »Es ist nicht im Entferntesten wie eine Harfe.«
Er senkte die Stimme. »Ich dachte, du könntest jedes Instrument spielen?«
»Richtige Instrumente schon. Aber das Ding hat ja nicht einmal die korrekte Anzahl Saiten.«
»Dann eben Drums.« Er drehte sich um und rief Grannys Gang zu: »Sie spielt die Drums.«
Der Typ an den Drums war ein etwa zehnjähriger Junge mit Irokesenschnitt, der einen durchlöcherten grüngestreiften Pullover trug. Er erhob sich von seinem Platz und reichte Astor die Drumsticks, federnde Metallstäbe mit Lederköpfen.
»Ich kann das nicht«, flüsterte sie Verrol zu.
»Du kannst es. Du musst. Es ist unsere einzige Chance.«
Astor nahm ihren Platz auf einer umgedrehten Kiste ein und starrte auf die Fässer, Kessel und Büchsen, die vor ihr aufgebaut waren. Es war schlicht unmöglich! Warum begriff Verrol denn nicht, dass Drums einem völlig andere Fähigkeiten abverlangten? Sie hatte niemals in ihrem Leben Drums gespielt. Aber Verrol glaubte wirklich, dass dies ihre einzige Chance sei, einer Gang beitreten zu können.
Verrol stimmte sich mit den anderen Musikern ab, nickte mit dem Kopf und zählte: »Eins, zwei, drei,
vier
.«
Er tappte auf eines der Fässer, damit sie ihren Einsatz nicht verpasste. Sie erkannte denselben Rhythmus wie bei dem ersten Stück, das sie gehört hatten. Langsam begann sie ihre Drumsticks zu nutzen und testete die unterschiedliche Resonanz der verschieden Fässer und Kessel. Sie fügte dem Basistakt dann einige clevere Variationen hinzu. Verrol, der genau vor ihr tanzte, ließ seine schlanken Gliedmaßen lässig in diese und in jene Richtung kreisen.
»Los, Mensch, mehr Drive!«, zischte er ihr unauffällig zu. »Wie Gangmusik!«
Astor gab ihr Bestes, aber es fehlte etwas. Was konnte sie noch tun? Die Gitarristen spielten inzwischen schon ganz mechanisch, und Granny Rouse schüttelte ihren Kopf.
»Härter! Stärker!«, flehte Verrol sie geradezu an. »Spiel um dein Leben!«
ERSTER TEIL
•
Swale House
•
• 1 •
»Welcher ist es?«, flüsterte Astor ihrer Mutter zu, während sie die Treppen des Luftschiffes hinabstiegen und das riesige Flachdach betraten, das das Aerodock von Swale House bildete. Es erhob sich wie das Deck eines Schiffes über dem Smog. Der gasgefüllte Auftriebskörper des Luftschiffs schwang hin und her, zerrte klirrend an den Halteseilen und verdeckte die Hälfte des Himmels. Astor, ihre Mutter und ihr Stiefvater schritten langsam auf die drei Swale-Brüder und das dazugehörige Empfangskomitee zu.
»Welcher gefällt dir denn am besten?«, flüsterte ihre Mutter zurück.
Der eine war von schwerer Statur mit einem Stiernacken, der zweite, der eine dunkel getönte Brille trug, war wiederum dünn wie ein Skelett. Der dritte jedoch war ebenso gutaussehend, wie die anderen beiden hässlich waren. Und während die beiden Hässlichen die vierzig bereits überschritten hatten, war der Schöne Mitte zwanzig, und während die beiden Hässlichen in Seidenkrawatten und kunstvoll bestickten Westen dastanden, trug der Schöne einen schlichten dunklen Frack mit enganliegenden Kniehosen. Er hatte pechschwarzes Haar, blasse Haut, eine gerade, gut geschnittene Nase und große schimmernde Augen.
Astors Herz setzte einen Schlag aus. »Ist
er
es?«, flüsterte sie.
»Natürlich.« Astors Mutter schien so beglückt, als ob sie es selbst wäre, die sich verloben wollte. »Lorrain Swale. Die beiden anderen sind bereits verheiratet.«
»Warum ist er soviel jünger als die anderen?«
»Er entstammt der zweiten Ehe. Und wie gefällt er dir?«
Astor wollte nicht zugeben, wie gut er ihr tatsächlich gefiel. Sie wusste, dass die Swales Mitte des neunzehnten Jahrhunderts als die reichste Familie Britanniens galten, und dass es ein großer Glücksfall war, in solch eine Familie einheiraten zu können. Doch selbst in ihren kühnsten
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