Ein unversoehnliches Herz
sich selbst denken«, flüsterte sie leise.
Jetzt klangen die Worte falsch und überhaupt nicht mehr, wie sie gemeint gewesen waren.
Statt aufzustehen, setzte sie sich auf den Fußboden.
Nur kurz, dachte sie. Es ging natürlich nicht, wie ein kleines Kind auf dem Fußboden zu sitzen. Aber bald würde sie bestimmt genügend Kraft gesammelt haben, um aufzustehen oder sich zumindest auf die Couch zu setzen.
Madeleine hatte sich gerade erst aufgerappelt, als Lisa das Zimmer betrat und stolz die Fotografie hochhielt und wie eine ehrenvolle Trophäe überreichte.
Madeleines Miene erhellte sich.
»Was für eine schöne Aufnahme! Sie sind bezaubernd. Ein Junge und ein Mädchen. Wie heißen sie?«
»Greta und Åke.«
»Sie müssen sehr stolz sein.«
»Ja, ich … Sie sind blass. Möchten Sie sich nicht setzen?«
»Nein, nein. Es ist alles in Ordnung.«
Lisa legte trotzdem den Arm um sie und half ihr auf die Couch.
Es ist schön, sich ausruhen zu dürfen, dachte Madeleine. So schön, sich endlich setzen zu dürfen.
»Ich habe solche Angst«, flüsterte sie.
Lisa strich ihr wieder übers Haar.
»Ich weiß.«
»Ich will nicht so sein.«
Sie wusste, dass sie nicht sitzen bleiben konnte, dass ihr Besuch enden musste. Sie musste Vårstavi verlassen, nach Hause fahren.
Sie hatte keine Ahnung, wie viel Uhr es war, aber sie musste jetzt einen Zug nach Hause nehmen, denn eine Nacht auf Vårstavi würde sie niemals überstehen.
Das Einzige, was von ihrem Auftrag noch geblieben war: den Brief zu übergeben.
Eine einzige Aufgabe hatte sie noch, dann durfte sie sich ausruhen.
So einfach war das.
»Ich muss nach Hause fahren. Liebe Lisa, könnten Sie mir bitte ein Taxi rufen? Und vielleicht herausfinden, wann der Zug geht?«
»Das mache ich doch gern.«
»Danke. Sie sind sehr nett.«
»Ich möchte, dass Sie die Fotografie behalten.«
»Das geht doch nicht!«
»Aber ja, ich will es. Ich bestehe darauf.«
»Das ist ganz undenkbar. Ich weiß, was es kostet, eine …«
Aber Lisa legte das Bild in ihre offene Hand und krümmte ihre Finger darüber. Sie errötete leicht.
Was für eine schöne Geste, dachte Madeleine, eine Fotografie von dem zu verschenken, was man am meisten liebt. Einem wildfremden Menschen. Einer solchen Freundlichkeit begegnet man nicht oft. Man hat die Pflicht, ein solches Geschenk anzunehmen.
Sie achtete darauf, nicht zu fest anzuklopfen. Pouls Stimme klang freundlich und bat sie herein. Als Erstes fiel ihr auf, dass im Zimmer fast völlige Dunkelheit herrschte. Die einzige schwache Lichtquelle war eine Lampe auf dem Schreibtisch.
»Ich werde jetzt fahren, Poul. Aber ich möchte nicht, dass wir im Streit auseinandergehen.«
Er antwortete zunächst nicht, schien nachzudenken, als erreichten ihn die Worte nicht richtig, obwohl sie sich wirklich große Mühe gab, sachlich und nicht allzu sentimental zu klingen.
Dann nickte er, langsam, mehrmals.
Sie trat ein paar Schritte weiter in das Zimmer und blieb stehen. Er saß hinter seinem Schreibtisch. Sie sahen sich wortlos an.
Schließlich zog Madeleine den Brief aus der Manteltasche.
»Als wir uns verabredet haben, sagte ich dir, ich hätte dir etwas zu übergeben.«
Sie stand da, er blieb sitzen.
Also machte sie die wenigen Schritte zu seinem Schreibtisch und legte den Brief darauf.
Für Mutter.
»Dieser Brief stand auf dem Nachttisch, als Andreas … Es war das Letzte, was er schrieb. Ich wollte dich bitten, ihn deiner Mutter zu übergeben.«
»Hat er nur diesen Brief hinterlassen?«
»Ja, und einen an mich.«
Er nickte.
»Ich verstehe. Und du willst, dass ich ihn Mutter überbringe? Obwohl sie alt und krank ist, obwohl es sie in Verzweiflung stürzen wird?«
»Es war Andreas’ letzter Wille.«
Er nickte nochmals, so schwerfällig wie zuvor und mit verkniffenem Gesicht.
»Wir gehen nicht im Streit auseinander, Madeleine.«
»Es tut gut, das zu wissen.«
Diese Stille ist unerträglich, dachte sie. Es kam ihr vor, als scheuerte es im ganzen Körper.
»Ich habe Schwester Lisa gebeten, mir ein Taxi zum Bahnhof zu rufen.«
»Schön.«
»Grüße Gunhild bitte ganz herzlich von mir.«
Sie ging auf die Tür zu, drehte sich dann aber noch einmal um. Poul sah sie an und wartete darauf, dass sie etwas sagte. Schließlich ergriff sie mit seltsam abwesender Stimme das Wort:
»Ich weiß, dass du Andreas immer geliebt hast. Aber vielleicht hast du ihn mehr geliebt, als dir selbst bewusst gewesen ist.«
Aus Andreas Bjerres Tagebuch, den
Weitere Kostenlose Bücher