Eine Billion Dollar
zusehen. Danach behielt er es für sich, wenn die Männer auftauchten. Irgendwann aber sah er sie nicht mehr, und ihre Gestalten sanken hinab auf den Grund seiner Erinnerungen.
Dann wurde John zwölf Jahre alt und entdeckte, dass Mister Angelo, der vornehmste Kunde in der Werkstatt seines Vaters, ein Geheimnis hatte. Mister Angelo war ihm schon immer wie ein himmlischer Sendbote vorgekommen, nicht nur, weil er so elegant aussah: Wenn er in seinem weißen Anzug auf dem Hocker vor der Werkbank saß und in gemächlichem Italienisch mit Vater plauschte, die bestrumpften Füße auf der Metallstange – dann hieß das, der Sommer begann, herrliche endlose Wochen voller Eistüten, verplanschter Nachmittage in aufblasbaren Becken, Ausflüge nach Coney Island und durchschwitzter Nächte. Erst wenn Mister Angelo zum zweiten Mal im Jahr auftauchte, in einem hellgrauen Anzug dann, wenn er Vater seine Schuhe reichte und wissen wollte, wie es der Familie ging, war der Sommer wieder zu Ende und Zeit für den Herbst.
»Sind gute italienische Schuhe«, hörte John Vater einmal zu Mutter sagen. »Herrlich weich, für italienisches Wetter gemacht. Ziemlich alt, aber hervorragend gepflegt, muss man sagen. Ich wette, solche Schuhe kann man heutzutage nirgends mehr kaufen.«
Dass himmlische Sendboten besondere Schuhe trugen, war für John selbstverständlich.
An jenem bewussten Tag, als der Sommer des Jahres 1979 endete – und mehr als ein Sommer, nur ahnte das damals niemand –, durfte John seinen besten Freund Paul Siegel und dessen Mutter zum John-F.-Kennedy-Flughafen begleiten. Jimmy Carter war noch Präsident, das Geiseldrama von Teheran hatte noch nicht begonnen, den Sommer über hatte Art Garfunkel Bright Eyes besungen und die Tanzgruppe Village People den Y.M.C.A., und Pauls Vater sollte von einer Geschäftsreise aus Europa zurückkommen. Pauls Eltern besaßen ein Uhrengeschäft in der dreizehnten Straße, und Mister Siegel konnte unglaublich aufregende Geschichten von den Überfällen erzählen, die er schon erlebt hatte. An der hinteren Wand des Ladens gab es, verborgen unter einem gerahmten Foto von Paul als Baby, sogar ein echtes Einschussloch! Und John war zum ersten Mal im Leben auf dem berühmten JFK-Flughafen und drückte sich gemeinsam mit Paul die Nase platt an einer riesigen Glasscheibe, durch die man die ankommenden Passagiere beobachten konnte.
»Die kommen alle aus Rom«, erklärte Paul. Paul war unglaublich klug. Auf der Fahrt hatte er ihnen die Geschichte New Yorks bis bestimmt zurück in die Steinzeit erzählt, alles über die Wallstreet und wer die Brooklyn Bridge erbaut hatte und wann sie eingeweiht worden war und so weiter. »Dad kommt mit der Maschine aus Kopenhagen. Die hat mindestens eine halbe Stunde Verspätung.«
»Klasse«, meinte John. Er hatte es nicht eilig, wieder nach Hause zu kommen.
»Komm, wir zählen Männer mit Bärten!«, schlug Paul vor. Das war auch typisch. Paul hatte immer Ideen, was man unternehmen konnte. »Es gelten nur Vollbärte, und wer zuerst bei zehn ist, hat gewonnen. Okay? Ich seh schon einen, dort vorne, der mit der roten Aktentasche!«
John kniff die Augen zusammen wie ein Indianerscout. Es war aussichtslos, Paul in einem solchen Wettbewerb schlagen zu wollen, aber versuchen musste er es zumindest.
Da entdeckte er Mister Angelo.
Er war es, ohne Zweifel. Der hellgraue Anzug, die Art wie er sich bewegte. Das Gesicht. John blinzelte, erwartete die Gestalt wieder verschwinden zu sehen wie ein Trugbild, aber Mister Angelo verschwand nicht, sondern marschierte wie ein ganz normaler Mensch im Strom der anderen Passagiere des Fluges aus Rom mit, ohne hochzusehen, in der Hand nichts als eine Plastiktüte.
»Der Mann in dem braunen Mantel«, rief Paul. »Zwei.«
Ein Uniformierter hielt Mister Angelo an, deutete auf die Tüte und sagte etwas. Mister Angelo öffnete die Plastiktüte und hob zwei Paar Schuhe heraus, ein braunes und ein schwarzes.
»He«, beschwerte sich Paul in dem Moment. »Du spielst gar nicht richtig mit!«
»Ich find’s langweilig«, entgegnete John, ohne die Augen von dem Geschehen zu wenden. Der Sicherheitsbeamte war sichtlich verwundert, fragte etwas. Mister Angelo antwortete, die Schuhe in der Hand. Schließlich bedeutete der Uniformierte ihm, dass er weitergehen könne, worauf Mister Angelo seine Schuhe in den Beutel zurück tat und durch eine automatische Tür verschwand.
»Du hast bloß Angst, dass du verlierst«, meinte Paul.
»Ich verlier
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