Eine Frage der Schuld - Mit der Kurzen Autobiographie der Graefin S A Tolstaja
wieder.
Betroffen von seiner Veränderung, sah ihm Anna fest und ernst in die Augen, und aus diesem stummen Blickwechsel sprach beider erstes, schwerwiegendes Bekenntnis.
«Am wenigsten von allen auf der Welt hätte ich erwartet, Sie hier zu sehen, Fürstin», sagte Bechmetew als erster. Er fragte sie nicht, weshalb sie ins Dorf gekommen war, er verstand augenblicklich, verstand es an dem leidenschaftlichen, schmerzlich-strengen Ausdruck der auf ihn gerichteten wunderschönen dunklen Augen; Freude und Schmerz erfaßten zugleich sein Herz.
Die Gespräche waren allgemeiner Natur. Anna erzählte von Moskau, wie sehr sie das Stadtleben ermüdet habe, und die abgerissenen, harten
Laute von Bechmetews Husten ließen sie fortwährend zusammenzucken.
Als Warwara Alexejewna aus irgendeinem Grund hinausging, änderte Anna plötzlich ihren Tonfall und fragte beunruhigt:«Geht es Ihnen schlecht?»
«Ja, etwas in meiner Brust ist nicht in Ordnung. Im Sommer wird es sich geben.»
«Wir kommen im März», entfuhr es Anna unwillkürlich.
«Wie schön wird das sein! Von Ihnen, Fürstin, erzählt man sich, daß Sie unerhörten Erfolg in der Gesellschaft haben», sagte Bechmetew.
«Wer hat Ihnen das gesagt? Wenn Sie wüßten - für mich gibt es dort niemanden!»entgegnete Anna.
«Sie interessiert einstweilen niemand, während alle Sie verehren. Sie wissen doch, eine Frau wie Sie liebzugewinnen ist gefährlich; in der Liebe gibt es kein Einhalten auf halbem Weg, die Liebe wird Sie ganz haben wollen...»
Bechmetew erbleichte wieder; er rang nach Atem, und die leidenschaftliche Strenge seines Gesichts verlieh ihm sogar einen unangenehmen Ausdruck. Anna betrachtete ihn erschrocken. Die ungewohnten Reden aus dem Munde dieses idealen Menschen verwirrten sie schrecklich. Sie
schwieg. Bechmetews von der Krankheit gezeichnetes Gesicht blieb düster, und die unterdrückte Leidenschaft verzerrte es so, daß es noch kränker wirkte.
Anna blickte ihn gequält an.«Wie, auch Sie denken so? Aber solche Ansprüche müssen die Liebe doch umbringen, und sie wird tagtäglich umgebracht von allen, ja, allen.»
«Was vermag denn die Liebe am Leben zu erhalten, Fürstin, und zwar für lange?»
«Oh, natürlich allein eine geistige Beziehung. Eine solche Liebe ist ewig, für sie gibt es keinen Tod.»
« Ausschließlich eine geistige Beziehung, meinen Sie?»
«Ich weiß nicht, ob ausschließlich oder nicht, aber auf jeden Fall in erster Linie , darin liegt es, das unzweifelhafte Glück.»
Bechmetew wurde nachdenklich.«Vielleicht haben Sie recht, Fürstin», sagte er leise.«So ist es besser, und mag es so sein», fügte er hinzu, wobei er näher trat und einen Stuhl heranrückte, um sich zu ihr zu setzen.
Teilnahmsvoll und einfühlsam befragte er sie nach ihren Kindern, ihrer Malerei, über ihr Leben im allgemeinen. Sie erzählte ihm ausführlich, wie man es bei einem Menschen tut, von
dem man sicher ist, daß ihn alles, absolut alles interessiert.
Als Warwara Alexejewna wiedererschien, bot sie Anna an, ihre Schule zu besichtigen. Anna war um größte Aufmerksamkeit bemüht, doch fiel sie ihr sichtlich schwer. Nach dem Mittagessen beeilte sie sich mit dem Aufbruch, um den Zug nicht zu verpassen.
«Darf ich Sie begleiten, Fürstin?»fragte Bechmetew.«Ich muß morgen in der Stadt sein, da möchte ich die Gelegenheit nutzen, mit Ihnen zur Bahnstation zu fahren.»
Anna erwiderte nichts, aber als der Schlitten vorfuhr, sagte sie:«Dmitri Alexejewitsch, wollten Sie nicht zur Bahnstation mitgenommen werden?»
«Ich bin gleich fertig, Fürstin.»
Unterwegs sprachen sie nicht. Es war trübe, ein feuchter, lauer Wind wehte; aus dichten, tiefhängenden Wolken kündigten sich Schnee und Sturm an.
«Wir scheinen in einen Schneesturm zu geraten. »
«Schweigen Sie bitte, bei solchem Wind dürfen Sie nicht sprechen», sagte Anna.
Und er schwieg, doch seine Augen, die nach vorn blickten, ohne etwas wahrzunehmen, was
außerhalb seiner selbst vor sich ging, sahen nur sein inneres Glück, das Glück, neben der Frau zu sitzen, die er über alles auf der Welt liebte, ohne zu wagen, es ihr zu sagen, und deren Liebe er spürte. Anna sah diesen Ausdruck von Glück, und lange, lange danach, in einsamen schweren Momenten ihres Lebens, leuchtete ihr jener Blick von innen.
Sie fuhren weiter und weiter, und ihre Gedanken waren mit ein und demselben beschäftigt, ohne noch etwas zu verlangen, weder vom Schicksal noch einer vom anderen, und sie fühlten in
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