Eine Frage der Schuld - Mit der Kurzen Autobiographie der Graefin S A Tolstaja
erschien dem Fürsten mehr als befremdlich, doch sah er ein, daß Streiten zwecklos war; bei den Frauen gibt es Entschlüsse, gegen die keiner ankommt, und wenn er es versucht, holt er sich nichts als Beulen, ohne etwas auszurichten.
Anna packte mit Hilfe des Dienstmädchens einen kleinen Koffer, und um keinen einzigen Tag zu verlieren, reiste sie nachts ab. Beim Abschiednehmen von den Kindern wurde ihr ganz bange, sie zurückzulassen. Sie bekreuzigte und küßte lange den erst kürzlich abgestillten kleinen Juscha, küßte die schläfrigen älteren Kinder, und Gewissensbisse regten sich in ihr. Doch bleiben konnte sie nicht, es wäre über ihre Kräfte gegangen. Der Fürst verabschiedete sich von ihr herablassend, aber besonders zärtlich. Noch lange fühlte sie seine feuchten Küsse und hatte seinen sinnlichen Blick vor Augen, der in letzter Zeit so oft auf ihr ruhte.
Das Ziel war erreicht: Ihr Mann hatte sie nicht verlassen. Aber welchen Preis mußte sie dafür zahlen! Sie rief sich ins Gedächtnis, was sie alles unternommen hatte, um ihren Mann zu halten, und empfand Widerwillen gegen sich selbst. Was
war aus ihr geworden? Immer weiter entfernte sie sich von dem, der die beste Seite ihres Ichs umgebracht hatte - bei diesem Gedanken grauste ihr.
VI
Anna hatte telegrafisch veranlaßt, daß sie von der Bahnstation abgeholt wurde. Der alte Kutscher, der mit der vertrauten Braunentroika vor dem Bahnhof stand, begrüßte sie sehr freundlich.
Als Anna das Stadttor passierte, überkam sie unbändige Freude. Es war ein herrlicher Morgen. Die grelle Sonne übergoß mit ihrem Licht die blendendweißen ebenen Felder.«Ja, diese Unermeßlichkeit, diese Unendlichkeit, l’infinité - das ist es, was ich wollte!»dachte Anna.«Die Mauern, die Zäune, die Häuser - diese schreckliche städtische Atmosphäre hat mich erdrückt! Ja, hier ist das Leben, hier ist die Freiheit und die Weite, hier ist Gott! Ja, ich bin ein freier Vogel, ich bin auf dem Land geboren und aufgewachsen, ich kann nicht in der Stadt leben...», ging ihr durch den Kopf, während die Troika mit fröhlichem Schellengeläut über den verschneiten Weg dahinsauste. Ihre frohe und träumerische
Stimmung wurde nur gestört, wenn der Schlitten durch Schlaglöcher fuhr und sie hochschleuderte.
Endlich erreichten sie die alte Birkenallee. Der Rauhreif hing schwer an den Ästen der hundertjährigen knorrigen Birken und verlieh, wie mit tausend Feuern in der Sonne funkelnd, der ganzen Natur ein festliches Aussehen.
«Ach, wie schön ist das alles, wie vertraut, ruhig und ernsthaft!»dachte Anna, als sie sich dem Haus des Verwalters näherte und ihren Blick über das gesamte Anwesen schweifen ließ.
Der Verwalter erwartete sie mit Samowar und besonders sorgfältig zubereitetem Tee, den seine alte Tante einschenkte. Während Anna trank, berichtete er ihr in bedeutsamem Ton und einer offensichtlich vorbereiteten Rede, wie es um die Gutswirtschaft stand, den Drusch, das Vieh, über Fälle von Waldfrevel. Er wollte wissen, wann sie sich die Bücher anzusehen wünschte.
«Am Abend, jetzt gehe ich zur Tenne, in die Schule und zum Viehhof.»
«Soll ich Sie begleiten, Fürstin?»
«Kommen Sie.»
Anna nahm alles genau in Augenschein. Die wirtschaftlichen Angelegenheiten waren, ohne daß es ihr recht bewußt wurde, bloße Rechtfertigung
ihrer Reise. Sie bemühte sich um Gewissenhaftigkeit, obwohl die Gutswirtschaft sie nur wenig interessierte. Ihr war einfach wohl zumute, und alles erschien ihr wie neu in dieser altbekannten Umgebung. Die Kälbchen bei den Muttertieren fanden genauso ihre Aufmerksamkeit wie die jungen, frisch zugerittenen Pferde. Sie prüfte, wieviel Getreide ungemahlen geblieben war, und rügte die Säumigkeit, ja sie kümmerte sich sogar um die sonst immer wenig beachteten Puten und Gänse. All das war natürlich und einfach, es war die urwüchsige und ewige Natur selbst!
Nachdem Anna den Verwalter entlassen hatte, ging sie in die Schule. Die junge Lehrerin, abgemagert und sehr blaß, stand an der Tafel und war eifrig bemüht, einem Jungen, der sie fragend und scheu ansah, eine Aufgabe zu erklären.
«Lidia Wassiljewna!»rief Anna sie an.
«Ach, Fürstin, Teuerste! Was führt Sie her? So eine Überraschung. Welch eine Freude!»
«Warum sind Sie so dünn geworden?»wollte Anna wissen und küßte die Lehrerin.
«Es ist so schwer, Fürstin. Unannehmlichkeiten mit dem Inspektor hatte ich auch. Man gibt sein Herzblut, und dann wird nur
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