Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
eine Welt zu imaginieren und zu begreifen, die wir nicht unmittelbar erfahren haben, sondern von der wir nur über die Berichte und Erfahrungen anderer wissen, ist Dürers
Rhinocerus
(Kapitel 75), ein Tier, das er zeichnete, aber nie zu Gesicht bekam. Als Dürer davon gehört hatte, dass der König von Portugal 1515 als Geschenk des Sultans von Gujarat ein indisches Nashorn erhalten hatte, informierte er sich anhand von schriftlichen Beschreibungen, die in Europa zirkulierten, so umfassend wie möglich darüber und versuchte sich dann vorzustellen, wie dieses außergewöhnliche Tier aussehen könnte. Genauso verfahren wir, wenn wir Belege sammeln und uns dann eine Vorstellung von einer längst vergangenen oder fernen Welt machen.
Dürers Tier, das in seiner gedrängten Monumentalität unvergesslich und mitseiner wuchtigen Panzerung und den dicken Hautfalten zutiefst beeindruckend ist, stellt eine herausragende Leistung eines großen Künstlers dar. Es ist so eindrucksvoll, plastisch und echt, dass man fast befürchtet, es könnte gleich aus seinem Blatt herausspringen. Und es ist natürlich – lustigerweise? peinlicherweise? beruhigenderweise? (ich vermag es nicht zu sagen) – falsch. Doch darum geht es letztlich nicht. Dürers
Rhinocerus
steht als Monument für unsere nie endende Neugier auf die Welt jenseits unserer unmittelbaren Wahrnehmung und für das Bedürfnis der Menschheit, diese Welt zu erkunden und sie verstehen zu wollen.
Teil I
Wie wir Menschen wurden
2.000.000–9000 v. Chr.
Das menschliche Leben nahm
seinen Anfang in Afrika. Hier schufen
unsere Vorfahren die ersten Steinwerkzeuge, um
damit Fleisch, Knochen und Holz zu zerschneiden und zu
zerhacken. Diese zunehmende Abhängigkeit von den Dingen, die
wir selbst erzeugen, unterscheidet uns Menschen von allen anderen
Lebewesen. Die Fähigkeit, Objekte herzustellen, ermöglichte es den
Menschen, sich an eine Vielzahl von Umgebungen anzupassen und
von Afrika aus in den Nahen und Mittleren Osten, nach Europa und
Asien vorzudringen. Während der letzten Eiszeit, die vor rund
40.000 Jahren begann, schufen Menschen die ersten Werke darstellender
Kunst. Diese Eiszeit hatte zur Folge, dass der Meeresspiegel überall
auf der Welt sank, wodurch eine Landverbindung zwischen
Sibirien und Alaska entstand. Damit konnten die
Menschen erstmals den amerikanischen Kontinent
betreten und sich dort rasch ausbreiten.
1
Die Mumie des Hornedjitef
Hölzerner Mumiensarkophag, aus Theben (nahe Luxor), Ägypten
ca. 240 v. Chr.
Als ich 1954, im zarten Alter von acht Jahren, zum ersten Mal das Britische Museum betrat, fing ich bei den Mumien an, und ich glaube, die meisten Menschen beginnen ihren Rundgang beim ersten Besuch noch immer dort. Was mich damals faszinierte, waren die Mumien als solche, der aufregende, gruselige Gedanke, dass es sich dabei um Leichname handelte. Wenn ich heute den Innenhof des Museums durchquere oder die Stufen am Eingangsportal erklimme, sehe ich häufig Gruppen aufgeregter Kinder, die in die Ägyptische Abteilung drängen, um dem Schrecken und dem Schauer der Mumien zu trotzen. Ich persönlich interessiere mich heute eher für die Mumiensarkophage, und obwohl es sich hier keineswegs um das älteste Objekt des Museums handelt, scheint es mir ein guter Ausgangspunkt für diese Geschichte in Objekten zu sein. Chronologisch beginnt unsere Darstellung im zweiten Kapitel, mit den frühesten Objekten, die, soweit wir wissen, vor knapp zwei Millionen Jahren bewusst von Menschen geschaffen wurden. Es mag also ein wenig unangebracht erscheinen, hier so mittendrin anzufangen, aber ich will es dennoch wagen, denn die Mumien und ihre Sarkophage gehören einfach zu den eindrucksvollsten Artefakten des Museums, und sie machen deutlich, welche Art von Fragen dieses Buch an die Objekte stellen – und mitunter auch beantworten – wird. Ich habe diesen Mumiensarkophag ganz bewusst ausgesucht – er wurde um 240 v. Chr. für einen hohen ägyptischen Priester namens Hornedjitef angefertigt und gehört zu den imposantesten Exemplaren im Museum –, weil er noch immer auf ganz bemerkenswerte Weise neue Erkenntnisse liefert und uns Botschaften aus lange vergan genen Zeiten übermittelt.
Wenn wir ein Museum, in dem wir schon als Kind waren, noch einmal besuchen, haben die meisten von uns das Gefühl, dass wir uns enorm verändert haben, während die Dinge die gleichen geblieben sind. Doch dem ist keineswegs so: Dank fortwährender Forschung und neuer
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