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Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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jenseits der Wolken und weit weg lag. Neue medizinische Untersuchungsmethoden liefern genauere Erkenntnisse über die Wehwehchen der alten Ägypter (Kapitel 1) und über die Talismane, die sie mit ins Jenseits nahmen. Der mittelalterliche Hedwigsbecher (Kapitel 57), der lange Zeit berühmt war für seineFähigkeit, Wasser in Wein zu verwandeln, hat ebenfalls vor kurzem eine grundlegende Wesensveränderung erfahren. Dank neuer Analysen des Glases lässt sich als Herkunftsort nunmehr mit einiger Sicherheit der östliche Mittelmeerraum vermuten, und mit weniger Gewissheit (aber großem Vergnügen) können wir darüber spekulieren, ob er nicht mit einem bestimmten Augenblick in der mittelalterlichen Dynastiegeschichte und einem schillernden Charakter aus der Zeit der Kreuzzüge in Verbindung steht. Die Wissenschaft schreibt diese Geschichten auf gänzlich unerwartete Weise neu.
    Im Falle der Akan-Trommel (Kapitel 86), die um 1730 in Virginia für Sir Hans Sloane erworben wurde, verbindet sich präzise Materialwissenschaft mit bemerkenswerter poetischer Vorstellungskraft. Holz- und Pflanzenexperten haben vor kurzem festgestellt, dass diese Trommel zweifellos in Westafrika gefertigt wurde: Sie muss den Atlantik auf einem Sklavenschiff überquert haben. Nun, da wir ihren Herkunftsort kennen, fragen wir uns natürlich, was sie erlebt hat, und begleiten sie im Geiste auf ihrer vermutlich wenig gemütlichen Reise von einem westafrikanischen Königshof quer über den Atlantik auf eine Baumwollplantage in Nordamerika. Wir wissen, dass solche Trommeln für «Sklaventänze» auf den Schiffen verwendet wurden, mit denen Depressionen bekämpft werden sollten, und dass sie auf den Plantagen mitunter die Sklaven zu Aufständen zusammentrommelten. Wenn eine der Zielsetzungen einer Objekt-Geschichte darin besteht, mit Hilfe von Dingen denen, die keine Stimme haben, eine zu geben, dann spielt diese Sklaventrommel eine ganz besondere Rolle – sie spricht für Millionen von Menschen, die nichts mitnehmen durften, als sie versklavt und verschleppt wurden, und die nicht in der Lage waren, ihre eigene Geschichte aufzuschreiben.
Dinge quer durch Zeit und Raum
    Am Globus zu drehen und die ganze Welt gleichzeitig in den Blick nehmen zu wollen, wie ich das im Vorwort beschrieben habe – auf diese Art wird Geschichte üblicherweise nicht erzählt oder gelehrt. Ich glaube, nur die wenigsten mussten sich während ihrer Schulzeit Gedanken darüber machen, was im Jahr 1066 in Japan oder Ostafrika geschehen ist. Lassen wir jedoch zu bestimmten Zeiten denBlick über den Erdball schweifen, so zeitigt das oftmals überraschende und inspirierende Ergebnisse. Um das Jahr 300 n. Chr. herum beispielsweise (Kapitel 41–45) kam es zu einer irritierenden Synchronizität, als Buddhismus, Hinduismus und Christentum allesamt die Darstellungskonventionen entwickelten, die bei ihnen bis heute weitgehend in Gebrauch sind, und ihr Augenmerk auf Bilder vom menschlichen Körper richteten. Warum diese erstaunliche Koinzidenz? Waren sie alle von der fortdauernden Tradition der hellenistischen Skulptur beeinflusst? Hatte es damit zu tun, dass alle drei Religionen das Produkt reicher und expandierender Imperien waren, die intensiv in die neue Bildersprache investieren konnten? Gab es eine neue, gemeinsame Vorstellung, wonach das Menschliche und das Göttliche in gewissem Sinne nicht voneinander zu trennen waren? Eine endgültige Antwort lässt sich unmöglich geben, aber nur diese Art der Weltbetrachtung konnte so scharf die Frage stellen, die dann zu einer zentralen historischen Frage werden sollte.
    In einigen Fällen kehrt unsere Geschichte mehrmals mehr oder weniger an den gleichen Punkt zurück, mit Tausenden von Jahren dazwischen, und beobachtet das gleiche Phänomen. In diesen Fällen jedoch lassen sich Ähnlichkeiten und Koinzidenzen leichter erklären. Die Sphinx des Taharqa (Kapitel 22), der Kopf des Augustus aus Meroë (Kapitel 35) und die Schlitztrommel aus Khartum (Kapitel 94) künden allesamt vom gewaltsamen Konflikt zwischen Ägypten und dem, was heute der Sudan ist. In jedem dieser Fälle genossen die Menschen aus dem Süden – dem Sudan – einen Augenblick (oder ein Jahrhundert) des Sieges; in jedem dieser Fälle setzte sich die in Ägypten herrschende Macht am Ende wieder durch und stellte die Grenze wieder her. Das Ägypten der Pharaonen, das Rom des Augustus und das viktorianische England waren nacheinander alle gezwungen anzuerkennen, dass

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