Eine kurze Geschichte der Zeit (German Edition)
abweicht, muß man die Theorie aufgeben oder modifizieren. Zumindest sollte das der Fall sein, doch es sind natürlich stets Zweifel erlaubt an der Fähigkeit derer, die die Experimente durchführen.
In der Praxis sieht dies oft so aus, daß man eine neue Theorie entwickelt, die in Wahrheit nur eine Erweiterung der vorigen ist. Beispielsweise ergaben sehr genaue Beobachtungen des Planeten Merkur, daß seine Bewegung geringfügig von den Vorhersagen der Newtonschen Gravitationstheorie abweicht. Genau diese Abweichung hatte Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie vorausgesagt. Die Übereinstimmung der Einsteinschen Vorhersagen mit dem, was man sah, und die Unstimmigkeit der Newtonschen Vorhersagen gehörten zu den entscheidenden Bestätigungen der neuen Theorie. Für alle praktischen Zwecke verwenden wir jedoch nach wie vor Newtons Theorie, weil der Unterschied zwischen ihren Vorhersagen und denen der allgemeinen Relativität in den Situationen, mit denen wir normalerweise zu tun haben, verschwindend klein ist. (Newtons Theorie hat überdies den großen Vorteil, daß es sich mit ihr sehr viel einfacher arbeiten läßt als mit der Einsteinschen!)
Letztlich ist es das Ziel der Wissenschaft, eine einzige Theorie zu finden, die das gesamte Universum beschreibt. In der Praxis aber zerlegen die meisten Wissenschaftler das Problem in zwei Teile: Erstens gibt es die Gesetze, die uns mitteilen, wie sich das Universum im Laufe der Zeit verändert. (Wenn wir wissen, wie das Universum zu einem gegebenen Zeitpunkt aussieht, so teilen uns diese physikalischen Gesetze mit, wie es zu irgendeinem späteren Zeitpunkt aussehen wird.) Zweitens gibt es die Frage nach dem Anfangszustand des Universums. Manche Menschen finden, daß sich die Wissenschaft nur mit dem ersten Teil des Problems befassen sollte – sie halten die Frage nach der Anfangssituation für eine Angelegenheit der Metaphysik oder Religion. Sie würden vorbringen, Gott in seiner Allmacht hätte die Welt in jeder von ihm gewünschten Weise beginnen lassen können. Das mag zutreffen, doch dann hätte er auch ihre Entwicklung in völlig beliebiger Weise gestalten können. Aber anscheinend hat er sich für eine sehr regelmäßige Entwicklung des Universums, für eine Entwicklung in Übereinstimmung mit bestimmten Gesetzen entschieden. Deshalb scheint es genauso vernünftig, Gesetze anzunehmen, die den Anfangszustand bestimmt haben.
Es hat sich als eine sehr schwierige Aufgabe erwiesen, eine Theorie aufzustellen, die in einem einzigen Entwurf das ganze Universum beschreibt. Statt dessen zerlegen wir das Problem in einzelne Segmente und arbeiten Teiltheorien aus. Jede dieser Teiltheorien beschreibt eine eingeschränkte Klasse von Beobachtungen und trifft jeweils nur über sie Vorhersagen, wobei die Einflüsse anderer Größen außer acht gelassen oder durch einfache Zahlengruppen repräsentiert werden. Vielleicht ist dieser Ansatz völlig falsch. Wenn im Universum grundsätzlich alles von allem abhängt, könnte es unmöglich sein, einer Gesamtlösung näherzukommen, indem man Teile des Problems isoliert untersucht. Trotzdem haben wir in der Vergangenheit auf diesem Weg zweifellos Fortschritte erzielt. Das klassische Beispiel ist abermals die Newtonsche Gravitationstheorie, nach der die Schwerkraft zwischen zwei Körpern außer vom Abstand nur von einem mit jedem Körper verknüpften Zahlenwert abhängt, ihrer Masse, sonst aber unabhängig von deren Beschaffenheit ist. So braucht man keine Theorie über den Aufbau und Zustand der Sonne und der Planeten, um ihre Umlaufbahnen zu berechnen.
Heute beschreibt die Physik das Universum anhand zweier grundlegender Teiltheorien: der Allgemeinen Relativitätstheorie und der Quantenmechanik. Sie sind die großen geistigen Errungenschaften aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Allgemeine Relativitätstheorie beschreibt die Schwerkraft und den Aufbau des Universums im großen, das heißt in der Größenordnung von ein paar Kilometern bis hin zu einer Million Million Million Million (einer 1 mit 24 Nullen) Kilometern, der Größe des beobachtbaren Universums. Die Quantenmechanik dagegen beschäftigt sich mit Erscheinungen in Bereichen von außerordentlich geringer Ausdehnung wie etwa einem millionstel millionstel Zentimeter. Leider sind diese beiden Theorien nicht miteinander in Einklang zu bringen – sie können nicht beide richtig sein. Eine der Hauptanstrengungen in der heutigen Physik gilt der Suche nach einer neuen
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