Eine Leiche zu Ferragosto
erröten.
Die Nachtstunden widmete Santomauro der Lektüre.
Er gehörte nicht zu den Menschen, denen ab elf Uhr die Augen zufallen, und wenn er nichts anderes vorhatte, machte er es sich abends auf der Veranda in seinem Klappliegestuhl mit grüner Kunststoffbespannung, einem Erbstück seiner längst verstorbenen Tante, mit einem Buch bequem. Oder, wenn es zu kühl war, im Bett oder auf dem Sofa. Er hasste den Fernseher, der in einer Ecke des Wohnzimmers langsam einstaubte, stattdessen war jedes freie Stück Wand seines Häuschens mit Holzregalen vollgestellt, die vor Büchern überquollen, als wären sie eine eigenständige Spezies mit der Fähigkeit, sich fortzupflanzen.
Santomauro war ein allesverschlingender, unersättlicher Leser, was in der Familie liegen musste, da schon von besagter Liegestuhl-Tante die Sage ging, sie habe aus Mangel an Nachschub sogar das Telefonbuch gelesen.
So weit war es bei Santomauro noch nicht, doch er kannte das Lesestoff-Entzugs-Syndrom und hatte daher immer ein paar Bände für den Notfall bereitliegen, Bücher der Sorte, die man beliebig oft im Leben lesen kann, ohne dass man ihrer überdrüssig wird, und in denen man immer wieder etwas Neues entdeckt.
Seit ein paar Tagen war er an einem Buch über das Enneagramm, beziehungsweise »diesen Zahlenquatsch«, wie Gnarra es einmal respektlos ausgedrückt hatte, dessen eigene Lektüre sich auf das Ergebnis der Lottozahlen beschränkte. Es war eine spannende Theorie, eine Einordnung der Menschen nach ihrerWesensart in bestimmte Psycho-Typen; Santomauro war ziemlich überzeugt davon, eine Fünf zu sein, Manfredi musste eine Eins sein, aber angesichts der komplexen Schlichtheit von Gnarras Psyche hatte er die Waffen strecken müssen und war sich immer noch nicht sicher, ob er ihn als Sieben, als Vier oder als misslungene Acht einordnen sollte.
Das Telefon drängte sich störend in seine Ruhe, widerstrebend ging er ran. Ausgerechnet Gnarra war am Apparat, seine Stimme versank fast in einer Kakophonie aus Musik und Gelächter, die durch den Hörer drang. Trotz des Lärms entging dem Maresciallo nicht seine mühsam unterdrückte Erregung: »Es ist so weit, Simone, ich habe eine Spur. Vielleicht weiß ich, wer die Frau in den Algen ist.«
»Was hast du herausgefunden?«
»Ich kann dazu jetzt nichts sagen, mir fehlt noch die Bestätigung, wir sehen uns morgen in der Kaserne, dann erzähle ich dir alles«, und schon hatte er aufgelegt, ohne eine Antwort abzuwarten.
Santomauro kehrte in seinen Stuhl zurück, doch schon nach einer Minute ließ er nervös das Buch sinken.
Aus war’s mit der Ruhe.
Von wegen Ruhe! Regina Capece Bosco rappelte sich aus ihrer Yogaposition auf, in der sie mühsam verrenkt vier scheinbar endlose Minuten ausgeharrt hatte. Bridge und nur Bridge brachte ihr Entspannung, alles andere konnte man vergessen.
Sie legte sich auf das Bett vor dem Panoramafenster, von dem aus sie die ganze Küste bis hin zum Leuchtturm überblicken konnte, eine weite, samtene, tiefblaue Fläche, übersät mit gelben Glitzerpünktchen. Die Partie am Nachmittag war zu ihrer Zufriedenheit ausgegangen, die dumme Gans Bebè Polignani hatte sich wie gewöhnlich bis aufs letzte Hemd ausziehen müssen, weil sie unter sechstausend gelandet war. Die anderen Spielerinnen hatten sie niedergemacht. Woher also dieses vage Gefühl der Unzufriedenheit? Die Leiche in den Algen? Vielleicht hätten sie am Ende doch Pippo anrufen sollen. Die anderenhatten ja davon gesprochen, vielleicht wäre es wirklich das Beste, auf Nummer sicher zu gehen.
Mitternacht, um diese Uhrzeit rief man bei anständigen Leuten nicht mehr an, besser morgen.
Oder vielleicht, noch besser, würde sie einfach die dumme Gans Bebè anrufen lassen.
Pippo Mazzoleni schlief. Niemand hatte ihn informiert, dass unter den Algen eine Frauenleiche gefunden worden war. Im Schlaf tastete sein Arm hinüber auf Elenas Bettseite, die Hand fand das kühle Bettlaken, und er wachte nicht auf.
Samstag, 11. August
»Carmela Tatariello, genannt die Puppe. Wie du siehst, serviere ich sie dir quasi auf dem Silbertablett. Sie wurde seit einer Woche nicht mehr zu Hause gesehen, ebenso wenig ihr Mann. Was hältst du davon?«
Santomauro unterdrückte den Anflug von Ärger, der ihn angesichts von Pietro Gnarras selbstzufriedenem Lächeln überkam.
Als er am frühen Morgen ins Büro gekommen war, saß der Kollege schon dort – ausgerechnet an seinem Schreibtisch –, ausgeschlafen, frisch
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