Eine Mittelgewichts-Ehe
davon ist utsch - Kuh. Ich habe mich erkundigt, und die einzige Erklärung ist, daß utsch für verschiedene saloppe Georgier das Geräusch imitiert, das eine Kuh macht, wenn sie kalbt. Und utschka? Na, das ist natürlich ein Kalb, und so nannte der georgische Offizier das kleine Mädchen, das ihm aus dem Leib der Kuh geboren wurde. Und es ist ja wohl klar, daß eine Frau Mitte Dreißig keine Utschka mehr sein kann, also nenne ich sie Utsch.
Ihr wirklicher Name war Anna Agathe Thalhammer, und nachdem der georgische Offizier die Geschichte von Utschs Familie in dem ehrbaren Dorf Eichbüchl gehört hatte, nahm er seine Utschka mit nach Wien - einer prima Stadt zum Besetzen, mit Konzerten und Gemälden und Theatern und Heimen für Kriegshinterbliebene.
Wenn ich daran denke, wie oft ich Severin Winter diese Geschichte erzählt habe, könnte ich mir die Zähne einschlagen! Wieder und wieder habe ich ihm gesagt, daß er begreifen muß, daß Utsch vor allem treu ist. Geduld ist eine Form der Treue, aber das hat er an ihr nie begriffen.
»Severin«, pflegte ich zu sagen, »sie ist aus demselben Grund verletzlich, aus dem sie stark ist. Worauf sie auch immer ihre Liebe richtet, sie wird Vertrauen haben. Sie wird länger aushalten als man selbst, sie wird mit einem auskommen - ewig -, wenn sie einen liebt.«
Es war Utsch, die die Postkarten fand. Es war in dem Sommer, den wir, schlecht beraten, in Maine verbrachten, von Regen und stechenden Insekten heimgesucht, als Utsch vom Antiquitätenfloh gebissen wurde. Ich habe ihn als einen Sommer in Erinnerung, der von vergammelten Möbeln, Überbleibseln aus Amerikas kolonialer Vergangenheit, verschandelt war - ein Tick, von dem Utsch bald wieder abkam. Es war in Bath, Maine, wo sie in irgendeinem schmutzigen Lagerhaus, das für »seltene Antiquitäten« Reklame machte, die Postkarten fand. Es war in der Nähe der Werft; sie konnte Nietgeräusche hören. Der Besitzer des Antiquitätenladens versuchte, ihr eine Kutscherpeitsche zu verkaufen. Utsch deutete an, in seinen alten Augen habe ein Blick gelegen, der sie bat, die Peitsche an ihm auszuprobieren, aber sie ist Europäerin, und ich weiß nicht, ob viele Amerikaner auf so etwas stehen. Vielleicht in Maine. Sie lehnte die Peitsche ab und blieb in der Nähe der Tür des Lagerhauses, wo sie, immer gefolgt von dem alten Mann, aufmerksam herumstöberte. Als sie in einem staubigen Glaskasten die Postkarten sah, erkannte sie sofort Europa. Sie bat darum, sie ansehen zu dürfen. Sie waren alle von Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg. Sie fragte den alten Mann, wie er sie bekommen hatte.
Er war im Ersten Weltkrieg amerikanischer Soldat gewesen, Angehöriger der Armee, die den Sieg in Frankreich feierte. Die Postkarten waren die einzigen Souvenirs, die ihm geblieben waren - alte Schwarzweißfotos, manche in Sepiatönen, schlechte Qualität. Er sagte ihr, die Fotos seien in Schwarzweiß genauer.
»Ich erinnere mich in Schwarzweiß an Frankreich«, sagte er zu Utsch. »Ich glaube nicht, daß Frankreich damals in Farbe war.« Sie wußte, die Fotos würden mir gefallen, und so kaufte sie sie - über vierhundert Postkarten für einen Dollar.
Ich brauchte Wochen, um sie durchzusehen, und ich sehe sie heute noch durch. Da gibt es Damen mit langen schwarzen Kleidern und Herren mit schwarzen Regenschirmen, Bauernkinder in den traditionellen costumes bretons, Pferdegespanne, das Auto der Frühzeit, die Lastwagen der französischen Armee mit ihren Hecks aus Segeltuchplane und in den Parks umherschlendernde Soldaten. Da gibt es Szenen aus Reims, Paris und Verdun - vor und nach den Beschießungen.
Utsch hatte recht; genau solche Sachen kann ich gebrauchen. In jenem Sommer in Maine recherchierte ich noch für meinen dritten historischen Roman, der in Tirol zur Zeit von Andreas Hofer spielt, dem Bauernhelden, der Napoleon zurückschlug. Damals hatte ich keine Verwendung für Frankreich während des Ersten Weltkrieges, aber ich wußte, eines Tages würde ich Verwendung dafür haben. In ein paar Jahren vielleicht, wenn die Menschen auf den Postkarten - sogar die Kinder in costumes bretons - mehr als alt genug sein werden, um tot zu sein, dann werde ich sie vielleicht aufgreifen. Ich finde, es hat keinen Sinn, historische Romane über Menschen zu schreiben, die noch nicht tot sind; das ist eine Maxime von mir. Geschichte braucht Zeit; ich sträube mich dagegen, über Menschen zu schreiben, die noch am Leben sind.
Für Geschichte braucht man eine
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