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Eine Nacht, Markowitz

Eine Nacht, Markowitz

Titel: Eine Nacht, Markowitz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayelet Gundar-Goshen
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Seev Feinbergs Pistole diesmal danebengezielt hatte. »Ich bins«, schrie er. »Nicht schießen!«
    Seev Feinbergs gemurmelte Dankesworte gingen im Strahl des Kotzens unter. Jakob Markowitz hatte den am Boden Liegenden kaum angesehen, als sich ihm auch schon der Magen umstülpte. Das Blut des jungen Mannes funkelte im Mondlicht, und seine ausgetretene Hirnmasse machte Jakob Markowitz schaudern. Die Grillen jedenfalls zirpten weiter. In seiner Verzweiflung schloss Jakob Markowitz die Augen, verrammelte die Tore seines Geistes gegen die Bilder des jungen Mannes und seines vergossenen Hirns und klammerte sich mit aller Macht an die Brüste der Frau aus Haifa. Als er die Augen wieder aufschlug, sah er sich anderen, gänzlich symmetrischen Brüsten gegenüber. Rachel Mandelbaum stand zitternd und halb nackt neben Seev Feinberg. Vor lauter Schreck hatte sie vergessen, sich zu bedecken, und nun stand sie in ihrer ganzen Pracht vor ihm, schluchzend angesichts der Leiche des Arabers. Beim Anblick von Rachel Mandelbaums Brüsten versteifte sich Jakob Markowitz’ Glied. Je mehr sich sein Glied versteifte, desto flauer wurde ihm im Kopf, bis er völlig von der Gestalt des erschlagenen Arabers abkam. Langsam, aber sicher dämmerte ihm, dass er Rachel Mandelbaums Brüste anstarrte, obwohl er keineswegs Abraham Mandelbaum war. In dieser Erkenntnis hörte Jakob Markowitz auf, Rachel Mandelbaums Brüste anzustarren, wandte sich an Seev Feinberg und sagte: »Abraham wird dich umbringen.«
    Eingeweihte und Unwissende waren sich uneins in der Frage, wie viele Menschen Abraham Mandelbaum getötet hatte. Manche sagten zehn, andere fünfzehn. Wieder andere taten das als Übertreibung ab und behaupteten entschieden, es seien nicht mehr als vier gewesen. Schließlich einigte man sich auf eine symbolische Zahl, sieben. Obwohl alle einhellig annahmen, dass von Arabern die Rede war, höchstens noch einem Briten, konnte kein Mensch die Hand dafür ins Feuer legen. Fliegen überlegten es sich zwei Mal, ehe sie Abraham Mandelbaum in die Nähe kamen. Katzen rieben sich nicht an seinen Beinen. Hätte es im Ort eine Guillotine gegeben, wäre Abraham Mandelbaum ausersehen worden, sie zu bedienen. Da es keine gab, musste er sich mit der Aufgabe des Schächters begnügen. Nur wenige wussten, dass er nachts im Schlaf bitterlich auf Polnisch weinte, rätselhafte Sätze über ein weißes Lamm, einen Zuckerapfel oder die Bosheit der Kinder lallte. Rachel Mandelbaum hörte und verstand es und kletterte still aus dem Bett. Auch von dem Schiff war sie still an Land gegangen, fünf Jahre zuvor. Hatte stumm im Haifaer Hafen gestanden und gewartet, dass etwas geschah. Ihren ganzen Wagemut hatte sie für die Reise nach Palästina aufgebracht, und nun, dort angekommen, besaß sie gerade noch die Energie, stehen zu bleiben und zu warten. Sie wartete nicht lange. Nach einer halben Stunde trat Abraham Mandelbaum zu ihr und stellte sich vor. Er lud sie zu einer Brause am Kiosk ein und nahm sie mit nach Hause. Rachel Mandelbaum folgte ihm wie ein Entenküken, das auf der Hafenmole aus dem Ei geschlüpft war und dem ersten Lebewesen, das es erblickte, nachlief.
    Später fragte sie sich, wozu er am Ankunftstag des Schiffes in den Hafen gekommen war. Er hatte an jenem Tag, den er mit ihr im Hafen verbrachte, nichts geschleppt und nichts gekauft. Verwandte hatte er keine, und deshalb nahm Rachel Mandelbaum an, dass er niemanden hatte abholen wollen. Hier irrte sie sich. Abraham Mandelbaum kam alle paar Wochen in den Hafen, um die Schiffe zu begrüßen. Wenn der Hunger groß genug ist, reicht schon die Erwartung allein, um die Leere im Magen wenigstens etwas zu füllen. Abraham Mandelbaum besah sich die von Bord Gehenden – grünliche Gesichter, blasse Glieder – und versuchte, einen bekannten Gesichtszug zu erkennen. Nach einer Weile verliefen sich die Leute, und Abraham kehrte heim. An dem Tag, an dem er Rachel erblickte, wusste er sofort Bescheid, wartete aber noch dreißig quälende Minuten, um sicher zu sein. Kein Mensch kam. Sie tat keinen Schritt. In ihrem grünen Kleid wirkte sie auf ihn wie eine ins Meer geworfene und nun an Land gespülte Flasche, und er, der alleinstehende Überlebende, würde sie aufheben und den Inhalt der Flaschenpost lesen. Er nahm sie mit nach Hause und heiratete sie, aber niemals gelang es ihm, die Worte in der Flasche zu entziffern.
    Rachel Mandelbaum, geborene Kanzelpult, legte das grüne Kleid ab und nähte Gardinen daraus. Aus dem

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