Eine unberührte Welt
Es sei vorgekommen, dass Kunden, nachdem sie stundenlang an den Kassen vergeblich auf Verbindung zum Server hatten warten müssen, sogar Bücher von Stephen King oder Ken Follett erbost zurückgelassen hatten, und das trotz ausreichenden Punktekontos.
Bis das Stuß-System endlich einigermaßen funktionierte, hatten viele kleinere Buchhandlungen aufgegeben, angeblich wegen der erforderlichen Investitionen und Leitungsgebühren in Kombination mit den durch die Fehlfunktionen erlittenen Einnahmeausfällen. Eine Forderung nach Subventionen für den Buchhandel wies der Wirtschaftsminister jedoch zurück, das sei angesichts der angespannten Finanzlage des Bundes nicht bezahlbar.
Aufsehen erregte dafür eine technische Neuerung, die als Beispiel für deutsche Innovationskraft und Erfindungsgabe gelobt wurde: Eine schwäbische Firma stellte einen Kopierer vor, der im Stande war zu erkennen, ob aus einem Buch kopiert wurde, und maximal zehn solcher Kopien pro Tag zuließ. Ein Regierungsvertreter sagte zu, die entsprechende Technologie in der nächsten Erweiterungsregelung zum AuArSch-Gesetz verbindlich vorzuschreiben.
Ausgerechnet in diesem Jahr, in dem die Wende in der Literaturkrise zum Greifen nahe war, wurde die Frankfurter Buchmesse abgesagt, und zwar, wie es aussah, endgültig. Diese Entscheidung stieß insbesondere in Regierungskreisen auf Missbilligung: Widmete doch nirgendwo auf der Welt die Politik dem Buch so viel Aufmerksamkeit wie hierzulande! Aus dem Bundeskanzleramt verlautete, man sei »enttäuscht«, der Fraktionsführer unterstellte den Verantwortlichen gar »Böswilligkeit«. Allerdings war die Zahl der Aussteller in den vorangegangenen Jahren in der Tat stetig zurückgegangen, und viele bedeutende ausländische Verlage hatten schon mehrere Jahre in Folge nicht mehr teilgenommen. Aus Deutschland käme angeblich literarisch nichts mehr von Bedeutung.
Der Herausgeber einer großen Tageszeitung räsonierte in einem Leitartikel, ob die Wirtschaftspolitik womöglich selber das Problem sei, das zu beseitigen sie versuche, und es nicht ratsamer wäre, der Staat zöge sich überhaupt aus dem Gebiet des Verlagswesens zurück und beschränke sich auf die Sicherung des Urheber- und Vertragsrechts. Ansonsten solle man Autoren, Verleger, Buchhändler und Leser nach eigenem Gutdünken schalten und walten lassen.
Bissige Erwiderungen in anderen Blättern nannten besagten Herausgeber einen »Neo-Liberalen«, der »zurück zum Gesetz des Dschungels« wolle, wo »nur das Recht des Stärkeren« gelte. So könne die Lösung auf keinen Fall aussehen, beteuerten Vertreter aller Parteien, die untereinander nur darum stritten, ob eine Anhebung des Goethe-Pfennigs auf 19,4 % zu rechtfertigen sei oder ob man besser bei dem gegenwärtigen Satz bleiben und die aufgetretenen Finanzierungslücken durch eine einheitliche Kopfpauschale schließen solle. Abstriche an Stuß-IV, wie die nächste Reformrunde griffig genannt wurde, könne und werde es jedoch nicht geben.
Stuß-IV griff eine vielfach geäußerte Kritik auf, nämlich dass die meisten Leute Bücher zwar kauften, aber nicht lasen, weil es ihnen nur um die Punkte zum Erwerb eines bestimmten Bestsellers ginge. Da dies die weniger bekannten Autoren um die angestrebte Wahrnehmung brachte, sah Stuß-IV vor, in jeder größeren Stadt ein Prüfungszentrum einzurichten, wo man vor einer Komission Fragen zu Büchern beantworten musste, um zu beweisen, dass man sie tatsächlich gelesen hatte. Erst dann würden einem die gewonnenen Punkte gutgeschrieben.
Diese Maßnahme, das war abzusehen, würde nicht nur enorm viele Arbeitsplätze schaffen, sondern auch den Buchabsatz fördern: Schließlich musste jedes Zentrum alle im fraglichen Zeitraum erschienenen Bücher im Regal haben, um Zweifelsfragen klären zu können. Vom Platzbedarf her kein Problem, da es ohnehin bei weitem nicht mehr so viele Neuerscheinungen gab wie früher.
Auf der direkt übertragenen Bundespressekonferenz, auf der der Vorsitzende der Literaturförderungskommission den Baubeginn für die ersten, verkehrsgünstig in den Innenstädten gelegenen Zentren in Berlin, München und Hamburg verkündete, sprach im Anschluss auch der Innenminister. Er und seine Mitarbeiter verfolgten mit wachsender Sorge, dass es mehr und mehr um sich greife, Bestseller einfach abzuschreiben und dann per E-Mail zu verbreiten. Mit finsterer Miene versprach er, dass man auch das in den Griff bekommen würde, zur Not durch Überwachung des
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