Eine unberührte Welt
hieß, dass zunehmend verdeckte Ermittler in die »graue Szene« eingeschleust würden, um die Drahtzieher dingfest zu machen und die illegalen Kreise auszuheben.
Erstmals wurde die Literaturpolitik Schwerpunktthema eines Landtagswahlkampfes. »Wir schaffen neue Leser«, plakatierte eine Partei und schickte einen ehemaligen Autor und langjährigen Spitzenfunktionär der Autorengewerkschaft als Kandidaten ins Rennen. Mit Erfolg, soweit es den Ausgang der Wahl anbelangte, bloß – an der Lage auf dem Buchmarkt vermochte auch der neue Mann nichts zu ändern. Der schrumpfte trotz aller Anstrengungen der Politik, und auch die Zahl der Neuveröffentlichungen, der aktiven Autoren, der Verlage, Buchhandlungen und so weiter nahm stetig ab.
Es bedurfte der tiefschürfenden Einsicht eines bis dahin eher unbequemen und umstrittenen Ökonomieprofessors namens Rainer Stuß, um frischen Wind in die verfahrene Situation zu bringen. »Bisher haben alle das Pferd vom Schwanz her aufgezäumt«, erklärte Stuß kategorisch. »Es sollte doch klar sein, dass die Zahl der Leser begrenzt ist. Das Leben ist endlich, die Zahl der Menschen ist ebenfalls endlich, also ist es die Zahl der Bücher, die gelesen werden können, auch. Solange man zulässt, dass einzelne Autoren aufgrund ihrer Marktmacht Leser in unverhältnismäßig großer Zahl an sich binden, hat alles keinen Zweck. Die Leser sind es, die Sie gerecht zuteilen müssen – so einfach ist das!«
Dieses Argument traf bei der Regierung, die ohnehin höchst besorgt über die Entwicklung war, auf offene Ohren. Da man den Erfolg der Reform vor den anstehenden Bundestagswahlen noch auf das eigene Konto buchen wollte, wurde im Eiltempo eine im Lichte dieser Einsichten völlig überarbeitete Neufassung des AuArSch-Gesetzes durch die gesetzgebenden Gremien gepeitscht. Wichtigste Neuerung war eine gesetzlich vorgeschriebene Höchstauflage von 40.000 Exemplaren pro Buch. (Mit einem Antrag, Höchst- und Mindestauflage zu einer einheitlichen, für alle geltenden Standardauflage zusammenzufassen, hatte sich der linke Flügel nicht durchsetzen können.) Der erzielte Kompromiss wurde als pragmatisch und für alle Seiten tragfähig bezeichnet; die Beschränkung der Auflage traf im Grunde hauptsächlich ausländische Bestsellerautoren, also keine armen Leute. Insofern war es gerechtfertigt, die Reform auch als sozial ausgewogen zu bezeichnen.
Die Neuregelung hatte zur Folge, dass die Bücher besagter vorwiegend ausländischer Bestsellerautoren jeweils im Nu ausverkauft waren. Binnen kurzem wurde es üblich, dass sich am Tag des Erscheinens eines solchen Titels schon früh am Morgen lange Schlangen vor den Buchhandlungen bildeten. »Na bitte«, meinte ein Kultusminister zufrieden, »wenn das kein Zeichen ist, dass die Menschen wieder gerne lesen!« Auch die Tagesschau blendete immer häufiger Bilder derartiger Warteschlangen ein, sobald es um Themen wie Literaturpolitik, Bücherförderung oder Verlagssubvention ging.
Bisweilen kam es bei solchen Gelegenheiten zu hässlichen Auseinandersetzungen und dramatischen Szenen. In Köln entbrannte ein heftiger Boxkampf zwischen zwei Männern um das letzte der Buchhandlung zugeteilte Exemplar eines neuen John Irving. In München rangen mehrere Frauen so erbittert um einen neuen Donna Leon, dass das Buch schließlich in den Seitenkanal der Isar fiel und versank. In Berlin drohte eine junge Frau mit Selbstmord, sollte man ihr den neuen Paul Coelho verweigern. Und bei einem grausigen Mord in Hamburg stellte sich heraus, dass der Mörder es auf den neuen Henning Mankell abgesehen gehabt hatte, der sich im Besitz des Opfers befunden hatte.
Die neue gesetzliche Regelung traf auch deutsche Bestsellerautoren. Ein Ehepaar in Stuttgart stritt im Scheidungsprozess bis in die letzte Instanz um ein Buch von Charlotte Link, und in Leipzig versuchte eine Frau, ihren Lebensgefährten als angeblich geistesgestört in die psychiatrische Klinik einweisen zu lassen, um in den Besitz seiner Wolfgang-Hohlbein-Romane zu gelangen.
Überhaupt offenbarte sich ein bemerkenswertes Maß an krimineller Energie bei Lesern derartiger Bücher. Nicht genug, dass sich zahlreiche Lese- und Büchertauschringe bildeten, die den Zweck des Gesetzes, nämlich die gerechte Verteilung von Lesern auf Autoren, zwar unterliefen, aber noch geduldet wurden (»einstweilen jedenfalls«, wie der Innenminister erklärte), nicht genug, dass geschäftstüchtige Dunkelmänner im benachbarten Ausland billige
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