Eine undankbare Frau
versteckt, als Lily aus dem Haus kam, und vielleicht hat ihre Reaktion ihm einen zusätzlichen Kick gegeben. Weißt du was?«, fragte Skarre seinen Kollegen aufgebracht. »Das ist widerlich, mir fehlen die Worte.«
Sejer, der selbst eine Tochter und ein Enkelkind hatte, war ganz seiner Meinung.
»Holthemann. Du hast unter Umständen recht«, sagte er seinem Vorgesetzten. »Das Ehepaar Sundelin könnte jemandem unabsichtlich auf die Zehen getreten sein. Sie sind sympathische und ordentliche Menschen, aber einen Fehler begehen doch alle einmal. Karsten Sundelin ist stur und dickköpfig, das habe ich sofort gesehen. Aber es ist auch möglich, dass wir es mit einer geistesgestörten Person zu tun haben. Einer Frau, die unter dramatischen Umständen ihr Kind verloren hat. Oder so etwas. Die Lily Sundelin mit Margrete gesehen hat. Du weißt, fremdes Babyglück. Es kann ein vernachlässigtes Wesen sein, das sich rächen will, und das sich ganz willkürlich rächt. Wer gequält und misshandelt wird, möchte oft andere quälen und misshandeln. Das ist ein furchtbares, aber sehr bekanntes psychologisches Muster. Das Glück anderer Leute kann sehr schwer zu ertragen sein.«
»Ja, klar«, sagte Skarre. »Rache. Oder Eifersucht. Oder Geltungssucht. Oder Geisteskrankheit. Oder einfach gute altmodische Gemeinheit.«
»Er geht jedenfalls methodisch vor«, sagte Sejer. »Er handelt nicht aus einem Impuls heraus, er inszeniert. Aber was sind das für Szenen? Sowas hab ich noch nie gesehen.«
Holthemann hatte bisher schweigend zugehört.
»Findet raus, was da los war!«, forderte er sie mit Nachdruck auf.
Dann bedankte er sich für ihre Aufmerksamkeit und verschwand aus dem Zimmer. Sie hörten ihn mit seinem Stock durch den Gang pochen, eine melancholische Erscheinung, die bald in Pension gehen würde.
Skarre riss sich von der Karte los. Er öffnete den Verschluss einer Thermoskanne, goss sich einen Becher Kaffee ein und trank gierig einige Schlucke. Dann trat er ans Fenster und sah hinunter auf den Platz vor dem Präsidium. Eine Gruppe von Menschen hatte sich vor dem Haupteingang versammelt, ein Summen drang nach oben, wie von einem Wespenschwarm.
»Die Presse wartet«, berichtete er. »Das ist doch ein Leckerbissen für die Zeitungen. Was willst du denen sagen?«
Sejer dachte nach.
»Dass wir uns alle Möglichkeiten offen halten. Und wir wie der Täter methodisch vorgehen werden. Ich hoffe, ich komme mit drei, vier Sätzen durch«, fügte er hinzu. »Dann mache ich eine höfliche Verbeugung und gehe wieder rein. Wir sollten noch ein bisschen sparsam mit unseren Reaktionen sein, sonst entwickelt die Sache eine Eigendynamik.«
»Sie werden fragen, ob wir noch weitere Anschläge erwarten«, sagte Skarre. »Von derselben Art. Was wirst du darauf antworten?«
»Kein Kommentar«, sagte Sejer.
»Und was sagst du inoffiziell?«, fragte Skarre. »Mal so unter uns? Ich meine, wer war das und was ist los mit dem Kerl?«
»Ich sollte am besten die Klappe halten«, erwiderte Sejer. »Soll ich wild drauflos spekulieren? Das bringt uns doch auch nicht weiter.«
»Ich werde mich nicht an irgendwelchen Bildern festbeißen, auch wenn du deine ganze Erfahrung da einbringst«, sagte Skarre. »Und Intuition. Und Menschenkenntnis, von der du so viel besitzt, wie alle sagen. Du hast dir doch garantiert schon ein Bild von ihm gemacht, so wie ich dich kenne. Ich bin nur neugierig. Ich mache mir ja auch meine Gedanken, wer das sein könnte. Was das sein könnte.«
Er hob die Hände.
»Ich mache mir auch keine Notizen«, sagte er lächelnd.
»Es ist ein Mann«, sagte Sejer.
Er ließ sich auf einen Stuhl sinken.
»Warum ist es ein Mann?«, fragte Skarre.
»Statistische Wahrscheinlichkeit«, antwortete Sejer.
Er krempelte sich die Ärmel hoch und kratzte sich am rechten Ellbogen. Er litt an Schuppenflechte und die flammte auf, wenn ihn etwas berührte oder wenn es heiß war, so wie jetzt. Es war ein sehr heißer Spätsommer.
»Die statistische Wahrscheinlichkeit spricht für folgende Tatsachen«, sagte er dann. »Es handelt sich um einen Mann zwischen siebzehn und sechzig. Er ist verschlossen und schüchtern, kann aber durchaus schon ein oder mehrere Male auf etwas unbeholfene Weise aufgefallen sein. Er hat versucht, sich Respekt zu verschaffen – aber ohne Erfolg. Er ist kreativ, verbittert und gekränkt. Er hat eine einfache Arbeit mit einem relativ geringen Einkommen, oder er ist arbeitslos oder vielleicht Frührentner. Er hat keine
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