Letzter Kirtag: Ein Altaussee-Krimi
1
So etwas hatte selbst Gasperlmaier noch nie gesehen. Gewiss, auf seiner Runde durch das Altausseer Bierzelt am Montagmorgen war ihm in den vergangenen zwanzig Jahren durchaus Bemerkenswertes begegnet. In wabernden Schwaden verschiedenster Duftspuren nach geräucherten Saiblingen, kalten Grillhendln, schalem Bier und Erbrochenem fand sich immer wieder der eine oder andere Gast, der nicht nach Hause gefunden hatte. Manch einen hatte Gasperlmaier schon auf einem Biertisch schlafend vorgefunden, dann und wann lagen auch zu Boden gegangene Lederhosenträger morgens noch dort, wo sie nachts zusammengebrochen waren, und sogar ineinander verschlungen schlafende Trachtenpärchen hatte Gasperlmaier schon dazu bringen müssen, sich schlaftrunken auf den Nachhauseweg zu machen. Oder, in manchen Fällen, gleich wieder auf einer Bierbank Platz zu nehmen und die nächste Bestellung bei der Kellnerin aufzugeben. Der Altausseer Kirtag entfaltete sich nämlich traditionsgemäß erst am Montag zu voller Blüte.
Auch solche wie den heute hatte er schon manchmal vorgefunden, noch auf der Bank sitzend, während der Kopf auf die darunter liegenden Arme gesunken war.
Auch allerlei Substanzen, die sich gewöhnlich im Inneren des Körpers befinden, hatte Gasperlmaier schon in Pfützen auf dem Boden, in dunklen Flecken auf den Lederhosen und in Rinnsalen auf und unter den Biertischen fließen und eintrocknen sehen. Er musste an den alten Witz denken, in dem ein Ausseer anlässlich einer Gesundenuntersuchung vom Arzt darüber aufgeklärt wird, dass eine Blut-, eine Stuhl-, eine Harn- und eine Spermaprobe benötigt würden, worauf der Ausseer anbietet, einfach die Lederhose dazulassen.
Doch so etwas wie heute hatte Gasperlmaier noch nie gesehen. Er trat näher und betrachtete den Mann, der vor ihm zusammengesunken am Biertisch hockte. Dass es keiner von hier war, war das Erste, was Gasperlmaier, der seit mehr als zwanzig Jahren Dienst im Polizeiposten von Altaussee versah, mit Sicherheit feststellen konnte. Der Mann trug eine Lederhose, das schon, sogar eine Altausseer Lederhose, eine teure noch dazu, siebennahtig, von Hand bestickt. Nicht unter tausendfünfhundert Euro zu bekommen. Solche Hosen trugen auch Altausseer da und dort. Aber keine neue. Nur in den allerschlimmsten Notfällen, nach Brandkatastrophen oder Lawinenabgängen, die das gesamte Hab und Gut einer Familie vernichtet hatten, oder Raubüberfällen, die zum Glück im Ausseerischen selten waren, kaufte sich der Ausseer oder Altausseer eine neue Lederhose. Selbst in den genannten Katastrophenfällen wurde die Lederhose oft dadurch gerettet, dass ihr Besitzer sie stets am Leib trug. Und wenn denn eine Neuanschaffung unausweichlich war, zog man gebrauchte, überarbeitete, weiter oder enger gemachte den neuen vor. Jahre konnten über der Suche nach einer passenden alten Lederhose hingehen.
Gasperlmaier selber war gestern in der Uniform der freiwilligen Feuerwehr im Bierzelt gesessen, heute hatte er sie mit seiner Polizeiuniform vertauscht, wie Gasperlmaier überhaupt ein Freund von Uniformen war und selten anderes trug. Das hätte ja bedeutet, einkaufen gehen zu müssen, in engen, nach Schweiß riechenden Kabinen, in denen man sich Ellbogen und Knie blutig schlug, fremde Kleidungsstücke immer wieder an- und ausziehen zu müssen, Entscheidungen über Farbe, Stil und Passform treffen zu müssen und so weiter. Das wollte sich Gasperlmaier, wenn es ging, liebend gern ersparen, obwohl seine Frau ihn regelmäßig … Gasperlmaier würgte diesen Gedanken entschlossen ab, um nicht ins Grübeln und Sinnieren zu geraten. Schließlich und endlich war auch die Tracht, die der Mann auf der Bierbank trug, eine Art Uniform, denn es galten exakte und genau einzuhaltende Kleidungsvorschriften, und so wurde zum Beispiel ein ahnungsloser Sommerfrischler, der sich mit weißen Stutzen anstatt der grünen zur Lederhose im Wirtshaus sehen ließ, schon einmal verächtlich als „Pinzgauer“ beschimpft und unter Umständen auch mit einer Halben Bier übergossen.
Gasperlmaier ordnete seine Gedanken und kehrte zum gegenständlichen Fall zurück. Trug also einer, wie hier, eine neue Lederhose, war er in der Regel ein Wiener, allenfalls ein Linzer, Grazer, in seltenen Fällen vielleicht ein Vöcklabrucker oder gar ein Gmundner. Obwohl die Gmundner schon ihre eigenen Lederhosen hatten.
Auch dass es sich um eine Altausseer, nicht etwa um eine Bad Ausseer oder eine Grundlseer Lederne handelte, war
Weitere Kostenlose Bücher