Eine undankbare Frau
verängstigt schien, empfand er in erster Linie eine rasende Wut. Seine Freundlichkeit und sein Verständnis für andere Menschen hatten sich in Nichts aufgelöst, es raubte ihm den Atem und ließ ihn vor Wut kochen. Er hatte für die Polizei noch nie etwas übrig gehabt, obwohl er noch nie mit ihr zu tun gehabt hatte. In seiner Vorstellung waren Polizisten plumpe und schlichte Menschen, die mit schwarzen Schnürstiefeln und albernen Mützen herumrannten. Sie erinnerten ihn an breitbeinige Handwerker, denen eine Menge Werkzeug am Gürtel herum baumelte. Das waren junge und ungebildete Menschen, die nichts über das Leben und seine Nuancen wussten. Die Details, dachte Karsten Sundelin. Die Einzelheiten, die dieses Verbrechen an Margrete und an uns zu einer sehr ernsten Angelegenheit machen. Die werden sie wahrscheinlich gar nicht begreifen. Sie werden es als Jungenstreich betrachten. Und wenn so ein halbwüchsiger Bengel dahintersteckt, dann kommt er mit einer Verwarnung davon, denn das Leben hat es bisher nicht gut mit ihm gemeint, der arme Kleine. Aber ich werde ihnen schon ein paar Wahrheiten erzählen, dachte er und trank den bitteren Kaffee, den die Krankenschwester ihnen gebracht hatte.
Lily drückte das Kind so innig an sich, dass sie zitterte. Sie betrachtete die Bilder an der gegenüberliegenden Wand. Eines zeigte pastellfarbene Seerosen, die in einem Teich schwammen, ein anderes einen norwegischen Gebirgszug, einen blauen Bergrücken hinter dem anderen. Auf dem Tis ch lagen mehrere Gesundh eitsmagazine. Darin standen Artikel darüber, w as man vermeiden sollte, was man essen und trinken sollte, oder eben nicht essen und trinken sollte und wie man leben sollte.
Wenn man lange leben wollte.
Karsten lief unruhig im Zimmer auf und ab, er war so ungeduldig wie ein gereizter Stier. Die Wache lag ganz in der Nähe, nur wenige Minuten entfernt, es lag natürlich an dem schwerfälligen Apparat, dass es so ewig dauerte.
»Die müssen bestimmt zuerst einen Bericht schreiben«, sagte er mit müdem Sarkasmus in der Stimme. Er stand breitbeinig vor Lily, die Arme in die Hüften gestemmt.
»Den schreiben die doch bestimmt erst danach«, meinte Lily.
Sie streichelte über die Wange des Kindes. Margrete schlief nach der ganzen Aufregung tief und fest.
Endlich kamen zwei Männer. Keiner der beiden trug Uniform. Der eine war groß, mit grauem Haar und vermutlich Ende fünfzig, der andere war jünger und hatte Locken. Sie stellten sich als Sejer und Skarre vor. Sejer schaute das schlafende Kind an. Dann lächelte er Lily an.
»Wie geht es Ihnen denn jetzt?«, fragte er.
»Sie darf nie wieder im Garten schlafen«, antwortete Lily.
Sejer nickte. »Das verstehe ich«, sagte er. »Aber da werden Sie im Laufe der Zeit einen Weg finden.«
Skarre zog einen Notizblock aus der Tasche und nahm sich einen Stuhl. Er wirkte jung und lebhaft und eifrig, fand Lily, als wäre er immer auf dem Sprung.
»Wir müssen Ihnen ein paar Fragen stellen«, sagte er.
»Ja«, sagte Karsten Sundelin. »Das will ich ja wohl hoffen. Denn derjenige, der dahinter steckt, wird das büßen. Und wenn ich persönlich dafür sorgen muss.«
Bei dieser Aussage schaute Skarre hoch, und sein älterer Vorgesetzter hob eine Augenbraue. Karsten Sundelin war groß und kräftig gebaut, mit geballten Fäusten, sein Temperament war in seinen Augen zu sehen und drang durch die zitternde Stimme. Die junge Mutter saß in sich zusammengesunken im Sessel und hatte sich von der Welt abgekapselt. Innerhalb einer Sekunde hatte Skarre das Machtverhältnis zwischen den beiden durchschaut. Rohe Kraft gegen weibliche Verletzlichkeit.
»Waren Sie schon einmal verheiratet?«, fragte er freundlich und sah Lily Sundelin an.
Überrascht erwiderte sie seinen Blick. Dann schüttelte sie den Kopf.
»Ex-Freund? Ehemaliger Lebensgefährte?«
Jetzt war sie ein wenig verlegen.
»Ich hatte vor Karsten andere Partner«, gab sie zu. »Aber ich habe eine gute Menschenkenntnis.«
Das glaube ich sofort, dachte Skarre. Aber das Leben hält Überraschungen bereit.
»Und Sie?«, wandte er sich dann an den Mann. »Kann es in einer früheren Beziehung etwas gegeben haben? Ich denke da an Dinge wie Eifersucht. Oder Rachsucht.«
»Ich war verheiratet«, antwortete Karsten reserviert.
»In Ordnung.«
Skarre machte eine Notiz. Dann schaute er mit seinen blauen Augen wieder auf.
»Haben Sie sich gütlich getrennt?«
»Sie ist gestorben«, sagte Karsten. »An Krebs.«
Skarre nahm diese
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