Eine verräterische Spur: Thriller (German Edition)
schnappte sich das fünfzehn Kilogramm schwere, sich windende und schreiende Kind und rannte los.
Keine Sekunde verschwendete sie an den Gedanken, dass sie es nicht schaffen könnte.
Davon, wie das Messer sie in der Seite erwischte, als sie das Mädchen nahm und losrannte, bekam sie nichts mit.
Die Gebäude der Ranch schienen unendlich weit weg zu sein. Ihre Beine bewegten sich, aber es kam ihr vor, als liefe sie auf der Stelle. In der Ferne konnte sie den Deputy auf sich zurennen sehen, ohne dass er auch nur einen Meter näher kam.
Sie hörte ihr eigenes Keuchen, hörte, wie sie rasselnd Luft holte und wieder ausstieß. Sie hörte, wie ihre Füße auf den Boden trommelten. Und aus weiter Ferne glaubte sie eine Sirene zu hören.
Sie wagte es nicht, den Kopf zu drehen und zurückzusehen.
Dann traf plötzlich etwas sie an der Schulter, und sie stürzte. Im Fallen drehte sich Anne, um Haley zu schützen, und knallte mit der Schulter auf den Boden. In dem Moment ging der Deputy in Schussposition und brüllte Bordain zu, sie solle das Messer fallen lassen.
Sie reagierte überhaupt nicht.
»Lassen Sie das Messer fallen!«, brüllte der Deputy noch einmal.
Milo Bordain sah auf das Messer in ihrer Hand, und in dem Moment schien sie aufzuwachen.
»Lassen Sie das Messer fallen!«
Langsam löste sie die Finger vom Griff. Das Messer fiel zu Boden. Bordain sank auf die Knie. Sie riss den Mund zu einem Schrei auf, aber es kam kein Laut heraus. Sie rollte sich auf dem Boden zusammen, und ihre breiten Schultern bebten, als sie still zu weinen begann.
Schwer atmend zwang Anne sich auf die Knie. Haley warf sich heulend in ihre Arme.
»Mommy! Mommy!«
»Es ist gut«, keuchte Anne und hielt sie fest. »Es ist alles gut. Dir ist nichts passiert. Es ist alles vorbei.«
Und dann war plötzlich Vince da und hielt sie beide in den Armen, und sie waren in Sicherheit.
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»Niemand sollte zu Schaden kommen«, sagte Gina. »Nichts lag uns ferner. Wir wollten im Gegenteil etwas Gutes tun. Es sollte für alle Beteiligten das Beste dabei herauskommen, besonders für Haley.«
»Fangen wir doch beim Anfang an«, sagte Vince. »Erzählen Sie uns von sich und Marissa.«
Sie hatten sich im Krankenzimmer versammelt – Dixon, Mendez, Hicks und er. Gina war wieder bei Kräften. In ein, zwei Tagen würde sie nach Hause entlassen werden, auch wenn damit ihr Leiden noch längst kein Ende hatte. Ihr Knöchel würde noch einmal operiert werden müssen, und selbst dann würde er sie womöglich immer an das erinnern, was sie durchgemacht hatte.
Aber wenigstens waren die oberflächlichen körperlichen Wunden halbwegs verheilt.
»Beim Anfang …«, wiederholte sie. »Marissa – damals noch Melissa – und ich waren Freundinnen seit der siebten Klasse. Wir lebten in Reseda. Ich kam aus einer ganz normalen Familie. Marissa wuchs in einer Pflegefamilie auf. Ihre Mutter war bei einem Autounfall gestorben, da war Marissa acht, und ihr Vater hatte angefangen zu trinken und konnte sich irgendwann nicht mehr um sie kümmern. Eine wirklich traurige Geschichte. Er starb, als wir in die letzte Highschool-Klasse kamen.«
»Familie muss demnach ein wichtiges Thema für Marissa gewesen sein«, sagte Vince.
»Ja. Sie kam gern zu uns zu Besuch, und in den Pflegefamilien, in denen sie lebte, kümmerte sie sich immer um die anderen Kinder. Sie alle hier kannten Marissa nicht, aber ich versichere Ihnen, sie gehörte wirklich zu den Menschen, die andere bereitwillig in ihr Herz schließen – das galt besonders für Kinder. Sie hat immer gesagt, dass sie eines Tages eine große Familie haben wollte.«
Vince reichte ihr ein Papiertaschentuch und drückte kurz ihre Hand. »Ich wünschte, ich hätte sie gekannt«, sagte er. »Sie scheint ein ganz besonderer Mensch gewesen zu sein.«
Der auch zu Erpressung und Betrug fähig war, wie Vince wusste. Aber die Menschen bestanden eben aus nicht nur einer Facette.
Gina nickte und kämpfte einen Moment lang mit den Tränen.
»Sie beide waren also während Ihrer ganzen Schulzeit miteinander befreundet und dann …?«, soufflierte ihr Mendez.
»Wir machten irgendwelche Jobs, wurden gefeuert, suchten uns neue Jobs. Aber die ganze Zeit über blieben wir zusammen. Ich hatte nur Brüder, und Marissa hatte überhaupt niemanden, also waren wir wie Schwestern füreinander.«
»Und 1981, wo lebten Sie da?«, fragte Dixon.
»Da hatten wir eine Wohnung in Venice, gar nicht weit vom Strand. Ich arbeitete downtown in Los
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