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Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung

Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung

Titel: Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronica Roth
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1 . Kapitel
    In unserem Haus gibt es nur einen einzigen Spiegel. Er befindet sich hinter einer Schiebetür im Flur des oberen Stockwerks. Meine Fraktion gestattet es mir, jeweils am zweiten Tag eines jeden dritten Monats davorzustehen, immer dann, wenn meine Mutter mir die Haare schneidet.
    Ich sitze auf dem Stuhl, meine Mutter steht mit der Schere hinter mir, meine Haare fallen als matter blonder Kreis um mich herum auf den Boden. Als sie fertig ist, streicht sie meine Haare nach hinten und bindet sie zu einem Knoten. Ich bemerke, wie ruhig und konzentriert sie ist. Meine Mutter beherrscht die Kunst, sich selbst zu verleugnen. Von mir kann ich das nicht behaupten.
    Als sie gerade mal nicht hinsieht, wage ich einen verstohlenen Blick auf mein Spiegelbild– nicht aus Eitelkeit, sondern aus Neugier. Innerhalb von drei Monaten kann man sich ziemlich verändern. Ein schmales Gesicht, große, runde Augen und eine lange, dünne Nase… ich sehe immer noch aus wie ein kleines Mädchen, dabei bin ich irgendwann in den letzten Monaten sechzehn geworden. Die anderen Fraktionen feiern Geburtstage, wir nicht. Das wäre selbstsüchtig.
    » Fertig«, sagt Mutter, als der Knoten sitzt. Unsere Blicke treffen sich im Spiegel. Zum Wegschauen ist es zu spät, aber statt mit mir zu schimpfen, lächelt sie mein Spiegelbild an und ich antworte ihr mit einem Stirnrunzeln. Wieso tadelt sie mich nicht?
    » Heute ist also der große Tag«, sagt sie.
    » Ja.«
    » Bist du aufgeregt?«
    Ich schaue mir selbst im Spiegel in die Augen. Heute findet der Eignungstest statt. Er wird Klarheit schaffen, zu welcher der fünf Fraktionen ich gehöre. Und morgen, bei der Zeremonie der Bestimmung, werde ich mich bewusst für eine dieser fünf Fraktionen entscheiden. Es wird eine Entscheidung fürs Leben sein. Ich werde wählen, ob ich bei meiner Familie bleibe oder ob ich sie für immer verlasse.
    » Nein«, sage ich, » der Test darf unsere Entscheidung schließlich nicht beeinflussen.«
    » Das stimmt«, erwidert meine Mutter lächelnd. » Und jetzt lass uns frühstücken.«
    » Danke, dass du mir die Haare geschnitten hast.«
    Sie küsst mich auf die Wange und zieht die Schiebetür vor den Spiegel. Wenn sie in einer anderen Welt lebte, würde man meine Mutter als hübsch bezeichnen. Unter ihrer grauen Kleidung ist sie schlank, ihre Wangenknochen sind hoch und ihre Wimpern lang, und wenn sie nachts ihr Haar offen trägt, fällt es lockig über die Schultern. Aber bei den Altruan, der Fraktion der Selbstlosen, die Entsagung geschworen hat, ist sie gezwungen, ihre Schönheit zu verstecken.
    Gemeinsam gehen wir in die Küche. An einem Morgen wie diesem, wenn mein Bruder das Frühstück zubereitet, mein Vater mir beim Zeitunglesen geistesabwesend übers Haar streicht und meine Mutter beim Geschirrabräumen leise vor sich hin summt– an einem Morgen wie diesem fühle ich mich ganz besonders schuldig, dass ich vorhabe, sie im Stich zu lassen.
    Im Bus stinkt es nach Abgasen. Ich halte mich an meinem Sitz fest, trotzdem werde ich jedes Mal, wenn wir über unebenes Pflaster fahren, von einer Seite auf die andere geschleudert.
    Caleb, mein älterer Bruder, steht im Gang und klammert sich an die Haltestange an der Decke. Wir sehen uns überhaupt nicht ähnlich. Er hat das dunkle Haar und die Hakennase meines Vaters geerbt und die grünen Augen und Wangengrübchen meiner Mutter. Früher sah er damit etwas seltsam aus, aber jetzt steht es ihm gut. Wenn er kein Altruan wäre, würden ihn sämtliche Mädchen der Schule anhimmeln.
    Auch den Hang zur Selbstlosigkeit hat er von meiner Mutter geerbt. Seinen Sitzplatz hat er freiwillig einem Candor angeboten. Der Mann trägt einen schwarzen Anzug und eine weiße Krawatte– wie alle Candor. Die Fraktion der Freimütigen schätzt Ehrlichkeit über alles. Die Wahrheit ist für sie schwarzweiß, deshalb kleiden sie sich auch so.
    Die Häuser rücken näher aneinander und die Straßen sind nicht mehr ganz so holprig, je mehr wir uns dem Stadtzentrum nähern. Das Gebäude, das früher Sears Tower hieß und das wir jetzt einfach Zentrale nennen, ragt als schwarzer Pfeiler am Horizont aus dem Dunst empor. Die Busse fahren unter den höher gelegenen Bahngleisen hindurch. Ich bin noch nie Zug gefahren, obwohl sie ständig in Betrieb sind und überall Gleise verlaufen. Einzig die Ferox fahren Zug.
    Vor fünf Jahren haben freiwillige Bauarbeiter der Altruan einige Straßen neu geteert. Sie fingen in der Stadtmitte an und arbeiteten

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