Einige werden überleben
Mit verkrampften Rückenmuskeln, im vollen Bewußtsein seiner Ungeschütztheit, rannte er los, die Schritte lang und in hektischem Zick-Zack-Kurs.
Als er die Stufen erreichte, trug ihn seine Geschwindigkeit auf die Seite, und er mußte sich am Geländer festhalten. Plötzlich schlug ein Kugelhagel, der von der gegenüberliegenden Straßenseite kam, in die Betonstufen ein. Die Geschosse gaben zu dem flachen, hölzernen Klang des Gewehrfeuers ein Echo wie Hammerschläge. Bleispuren erschienen auf dem Beton, und Staubwölkchen zogen langsam ab.
Dann lag er unter dem Geländer im Schutz der niedrigen Terrasse. Die Hecke hatte ihn zerkratzt, und sein Gesicht und die Hände bluteten. Er keuchte, den Mund voller Dreck. Sein Herz schlug laut und schnell.
Das Mädchen begann zurückzuschießen.
Er riß sich von den Tausenden von Zähnen los, die die Hecke in seine Kleider versenkt hatte, und drehte sich heftig um. Er starrte gebannt zu dem Mädchen in der Eingangstür hinüber. Sie kniete auf einem Bein, das zweite hielt sie angewinkelt vor sich ausgestreckt. Mit der linken Hand hatte sie ihr Knie ergriffen und den Revolverlauf auf dem linken Ellbogen abgestützt, als würde sie auf eine Zielscheibe auf dem gegenüberliegenden Dach schießen. Sie gab zwei Schüsse ab und wartete.
„Aus der Tür raus!“ brüllte er. „In das Gebäude hinein!“
Das Mädchen sah zum Dach hoch und schüttelte leicht den Kopf. Sie biß mit ausdrucklosem Gesicht auf ihre Unterlippe.
„Ich sehe ihn nicht mehr“, rief sie. „Er muß hinter den Kamin gesprungen sein.“
Garvin brachte seine Beine in Startposition. Er war naßgeschwitzt. „Sieh zu, daß du ihn unten hältst“, rief er über den Balkon. Er sprang auf und rannte in gerader Linie auf den Eingang zu, weil er die Entfernung so schnell wie möglich hinter sich bringen wollte. Er warf einen Blick über die Straße, sah keine Bewegung auf dem Dach und hob das Mädchen mit einer Armbewegung auf die Füße. Er stieß die Eingangstür auf, und die beiden stolperten zusammen in die Sicherheit.
Er sank gegen die Tür der Eingangshalle. Der Schweiß lief ihm in Strömen von seinem Oberkörper herab. Im Schutz der dunklen Halle sah er das Mädchen an, während sich sein keuchender Atem langsam normalisierte. Wieder unterließ sie es, ihre Waffe nachzuladen. Trotzdem hatte sie sich an der Tür hingekauert und genau das Richtige getan, um sie beide vor dem Tod zu retten. Sie hatte es natürlich in ihrer eigenen, charakteristischen Art getan. Sie hatte sich dabei nicht nur dem Angreifer als unbewegliches Ziel ausgesetzt, sondern jedem anderen ebenso. Irgendwie hatte sie den Feuerschutz theoretisch verstanden und den Mut gehabt, dieses Wissen trotz ihres kläglichen Mangels an Praxis anzuwenden.
Er hatte bisher einfach gedacht, sie sei auf der Straße völlig fehl am Platz. Nun ertappte er sich bei dem Gedanken, daß sie mit ein wenig Training doch nicht ganz so hilflos sein würde.
Sie sah plötzlich auf und bemerkte seinen Blick. Statt weiter wortlos dazustehen, mußte er nun etwas sagen.
„Danke. Das war riskant, aber trotzdem – danke.“
„Ich konnte ihn doch nicht einfach …“ Sie sprach den Satz nicht zu Ende, fing aber auch keinen neuen an.
„Ganz schön dummer Bursche, wer auch immer das war“, sagte Garvin.
„Ja.“ Sie starrte ins Leere. Sie wollte offensichtlich nur die Zeit überbrücken, und Garvin kam plötzlich auf die Idee, daß sie auf etwas wartete.
„Ich verstehe ihn einfach nicht“, sagte sie abrupt.
„Ich auch nicht“, erwiderte Garvin lahm. Vielleicht wollte sie ihn gar nicht in das Apartment hineinlassen. Es war eigentlich normal und auch logisch, daß sie ihn bat, ihr dabei zu helfen, in das Haus hineinzukommen, ihn nun aber verlassen würde. Wartete sie vielleicht darauf, daß er ihr die Sachen gab, und wollte sie dann verschwinden? Oder wußte sie vielleicht nicht, was sie jetzt machen sollte, wo der Heckenschütze draußen wartete? Er verfluchte sich selbst, weil er nicht die Initiative ergriff, so oder so. Hastig redete er weiter. „Sich auf dem Dach derart hervorzuwagen. Irgend jemand knallt ihn bestimmt bald ab.“
„Das habe ich nicht gemeint … Aber du hast recht. Das war tatsächlich dumm.“
Nein, natürlich hatte sie nicht dasselbe wie er gemeint. Garvin war erneut wütend über sich selbst. Für das Mädchen war es unbegreiflich, daß jemand einen anderen töten wollte. Er hatte sie völlig mißverstanden. Für ihn war es
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