Einkehr zum toedlichen Frieden
aber aus den
Augenwinkeln sah ich rechts auf dem Berg eine Burgmauer und links einen See in der
Sonne glitzern. Plakate an Bäumen wiesen auf Ausstellungen, Dichterlesungen und
Disko-Abende hin. Vielleicht war der Hund hier doch nicht ganz so tief
begraben, wie ich es nach der Lektüre von Karl Christensens Briefen geglaubt
hatte.
Auf jeden Fall sind die Leute energiemäßig auf der Höhe, dachte ich,
als vor mir ein ganzer Wald an Windrädern auftauchte. Auf der Straße zur Linken
wies ein Schild auf »Die Hexenküche« hin, ein winziges Ausflugslokal nahe einer
Autowaschanlage. Mein Vater hatte seine letzten Briefe vor mehr als dreißig
Jahren abgesandt. Irgendetwas würde sich in der Zwischenzeit bestimmt auch in
der Eifel getan haben.
»Warum hat Ihnen Ihre Mutter diese Briefe überhaupt zukommen
lassen?«, unterbricht mich Langer. »Sie hätte sie auch einfach vernichten
können. Dann hätten Sie ihr Andenken in Ehren hochgehalten, nie erfahren, wo
Sie väterlicherseits herstammen und sich wohl damit abgefunden.«
Diese Frage stelle ich mir auch immer wieder und beantworte sie
genauso. Aber wenn dieser verwuschelte Polizist mit der schief hängenden
Krawatte, dem ungebügelten Hemd, den dreckigen Schuhen und dem schrägen
Schnurrbart so einfühlsam ist, kann er mich doch nicht ernsthaft für eine
Mörderin halten!
»Meine Mutter kannte mich«, erwidere ich. »Sie wusste, dass die
Lektüre auch Zorn in mir auslösen würde.«
»Vielleicht hat sie genau das gewollt«, sinniert Langer. »Dass Sie
ihr Andenken eben nicht nur in Ehren hochhalten, sondern mit Ihrem Zorn und
Ihrer Wut etwas anfangen.«
Vielleicht etwas, das mein eigenes Leben heißt? Nicht länger nur
beobachten und darüber berichten? Nicht länger auf die Freistunden eines
verheirateten Mannes warten? Mich nicht länger aus allem raushalten, sondern
mich einbringen. Zum Beispiel in eine Mordgeschichte? Tolle Idee!
»Sie meinen, meinen Bruder umbringen?«, fauche ich. Jetzt bloß nicht
wieder sentimental werden.
»Sie sind eine gute Zeugin, Frau Klein, denn Sie erinnern sich
offenbar an jedes Detail. Ich will genau wissen, was sich alles zugetragen hat
und was Sie beobachtet haben, als Sie hier bei uns eintrafen.«
»Ich denke, Eupen wartet«, sage ich in freundlicherem Ton. Zeugin
klingt erheblich besser als Verdächtige.
»Eupen arbeitet am Tatort«, sagt Langer. Er steht auf und schreit in
den Gastraum nach bitte schön noch mehr Kaffee. »Das braucht Zeit, also lassen
Sie in Ihrer Erzählung nichts aus.«
Nun, wenn er darauf besteht, werde ich ihn eben mit Details
bombardieren.
In der Hochsommersonne wirkte Hallschlag wie ausgestorben.
Keine Kneipe, keine Tankstelle, keine Apotheke, kein Krämerladen, kein Mensch
auf der Straße, den ich nach der Adresse fragen konnte. Ich hielt den Wagen an
der einzigen Kreuzung an und wartete.
Nach einer Weile öffnete sich die Tür eines Hauses und ein alter
Mann in blauen Hosen und kariertem Hemd schlurfte heraus. Ich stieg aus, ging
auf ihn zu und fragte ihn, wie ich nach Kehr in Büllingen käme. Er schüttelte
den Kopf.
»Zu wem wollt ihr denn?«
Wie Betrunkene sehen wohl auch alte Leute manchmal doppelt, dachte
ich.
»Zu Gerd Christensen.«
»Ah, ja.«
Er musterte mich von oben bis unten.
»Wissen Sie, wo der wohnt?«, hakte ich nach.
»Ja.«
»Können Sie mir den Weg beschreiben?«
»Ja.«
Ich sah ihn erwartungsvoll an. Er mich auch.
»Wie muss ich fahren?«, fragte ich leicht verzweifelt.
Der alte Mann kratzte sich an der Nase, verlagerte sein Gewicht aufs
andere Bein und fragte: »Ihr wollt also zum Christensen Gerd?«
»Ja«, erwiderte ich.
»Auf der Kehr?«
»Ja.«
»Belgien«, schien er zu überlegen.
»Ich weiß. Ist es noch weit?«
»Nein.«
»Und wie komme ich da hin?«
Eigentlich rechnete ich gar nicht mehr mit einer Antwort, mit der
ich etwas anfangen konnte, aber plötzlich sprudelte es aus dem Mann heraus:
»Das ist ganz einfach. Da fahrt ihr noch ein Stück geradeaus, dann da hinten,
wo ihr das Haus seht, links, da ist das Gemeindehaus, aber da fahrt ihr nicht
dran vorbei, dann kommt ihr nämlich nach Ormont, da wollt ihr ja nicht hin,
sondern ein bisschen rechts, den Berg rauf, da am Leuchtturm, aber ihr könnt
jetzt auch noch hier auf der Straße ein Stück geradeaus fahren, bis zu …«
»Vielen Dank«, sagte ich und stieg ein, ohne die Frage »Was wollt
ihr vom Gerd?« zu beantworten.
Bei der Kirche wollte eine alte Frau die Straße überqueren.
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