Einkehr zum toedlichen Frieden
Ich
hielt an und stellte meine Frage. Auch sie redete mich in der zweiten Person
Mehrzahl an. Ich fragte mich, ob mich ein nur für Greise sichtbarer Geist in
meinem Auto begleitete. Bis mir aufging, dass in der Anrede die Zeit hier
stehen geblieben war und noch das Ihr und Euch galt, das ich aus Ritterromanen
kannte. Ich bog an einem Spielplatz mit Leuchtturm rechts ab, fuhr einen mit
Windrädern verspargelten Hügel hinauf, kam an drei, vier vereinzelten Höfen
vorbei, geriet wieder auf eine Hauptstraße und war nach nochmaligem Nachfragen
in einem seltsam modern anmutenden Autohaus – ich musste wenden und zweihundert
Meter zurück – endlich am Ziel. Ein verkommener Hof mit mehreren Anbauten.
Nirgendwo auch nur eine Spur aktiver Landwirtschaft.
Es gab kein Namensschild und keine Klingel. Ich holte tief Luft und
klopfte. Ein fürchterliches Hundegebell setzte ein.
»Aber niemand machte mir die Tür auf«, sage ich beschwörend zu
Marcel Langer. Ich habe aufgehört, seine Tassen Kaffee zu zählen.
Wahrscheinlich befürchtet die drahtige Kellnerin, mein Geständnis zu verpassen,
wenn sie ihm eine Literkanne hinstellt. »Dann bin ich über die Hauptstraße den
Berg runtergefahren und habe hier im Hotel eingecheckt.«
Der Polizeiinspektor wickelt den Keks aus, der auch neben diesem
Kaffee schlummert, und reicht ihn mir. Ich zerkrümle das winzige Teil über mein
Camembertbrötchen, tröpfele etwas Kaffeesahne darüber, kröne das Ganze mit der
Johannisbeerdekoration und beiße hinein. Langer schaut mir andächtig zu,
schweigt, bis ich ausgekaut habe, und fragt dann wie nebenbei: »Wann sind Sie
eigentlich in die Krippana eingebrochen?«
»Ich bin nicht eingebrochen! Das Gatter stand heute früh
sperrangelweit offen, und als ich den Esel schreien hörte, bin ich aus Neugier
einfach durchgegangen. Ins Gebäude bin ich gar nicht erst gekommen …«
»Stehen Sie immer vor den Hühnern auf?«
»Nein! Aber ich war gestern Abend schon kurz nach acht im Bett …«
»Haben Sie dafür Zeugen?«
»Woher denn? Nach all den Aufregungen wollte ich endlich
ausschlafen. Da war ich gegen fünf natürlich hellwach.«
Der Polizist unterdrückt ein Gähnen.
»Genau die richtige Zeit, für sich unsere berühmte Krippana
anzusehen.«
»Um sich!«, belle ich ihn an.
»Um sich was?«, fragt er verwirrt.
Ich gebe auf.
»Um einen Spaziergang zu machen. Ich habe den Weg hinter dem Hotel
eingeschlagen.«
»Weit sind Sie aber nicht gekommen. Hören Sie, Frau Klein, es ist
immer noch sehr früh am Morgen …« Er sieht auf einmal wieder aus, als sehne er
sich nach seinem Bett. »Sie könnten sich und uns allen viel Zeit und Ärger
ersparen, wenn Sie endlich zugeben, dass Sie sich gestern Abend dort mit Ihrem
Bruder verabredet haben!«
Er hat mir überhaupt nicht zugehört.
Ich greife dem Polizisten über den Tisch an beide schmale Schultern
und kann mich nur mit Mühe zurückhalten. Am liebsten würde ich ihn gründlich
durchschütteln.
»Auf der Kehr hat mir niemand geöffnet! Ich habe meinen Bruder nie
gesehen!« Und weil ich nicht der Lüge überführt werden will, setze ich schnell
hinzu: »Jedenfalls nicht lebend!«
»Das widerspricht der Aussage von Frau Mertes«, sagt Marcel Langer
und nimmt meine Hände sanft von seinen Schultern. »Die Putzfrau der Krippana
wohnt Ihrem Bruder direkt gegenüber. Sie hat Ihr Auto auf dem Hofgelände von
Gerd Christensen eindeutig identifiziert. Und gesagt, dass er Ihnen geöffnet
hat. Sie glaubt sogar, aufgeregte Stimmen gehört und ein Handgemenge gesehen zu
haben. Für zu lügen, hat die Frau keinen Grund.«
Er erhebt sich. »Kommen Sie bitte mit, der Untersuchungsrichter aus
Eupen wartet nebenan.«
»Klar«, sage ich bitter. »Die Putzfrau ist glaubwürdiger, weil sie
von hier stammt. Ich bin die Fremde. Ein gewichtiges Argument gegen mich.«
»Nein«, sagt Langer. »Nicht das Fremde.« Wie liebenswürdig, jetzt
nicht meine Statur gegen mich in die Waagschale zu werfen! Er bleibt höflich:
»Es hätte auf das Strafmaß positiven Einfluss, wenn Sie in vollem Umfang
geständig wären.«
Klar doch, in vollem Umfang.
Tag 2, Sonnabend, mittags
Always Look on the Bright Side of Life kommt es scheppernd aus den Tiefen meiner Handtasche. Hastig zerre ich mein
Handy hervor, drücke auf die Taste und rufe hinein: »Kann ich mich jetzt
endlich frei bewegen?«
»Daran habe ich dich nie gehindert«, tönt die Stimme des Mannes, dem
ich zugestanden habe, mich vierzehn Jahre lang an allem
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