Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman

Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman

Titel: Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Krausser
Vom Netzwerk:
ein
schwaches Nein zu hören.
    »Bestimmt nicht?«
    »Hab deinen Kühlschrank geplündert!«
    Vincent mußte schmunzeln. Was konnte sein unterversorgter
Kühlschrank einem Besucher zu bieten gehabt haben?
    »Trinkst’n Glas Sekt mit?«
    Es dauerte eine halbe Minute, bis sie Antwort gab.
    »Ja.«
    Diese schlichte, auf jedes Ornament verzichtende Antwort gefiel ihm
sehr. Machte ihn beinahe glücklich. Er hätte nicht sagen können, warum.
    Vincent stand auf, ging zum Radio, holte den Schnulzensender zurück,
es lief ausgerechnet Strangers in the Night , und er legte zwei Flaschen
Aldi-Nord-Champagner, die sonst für verklemmte Kundinnen bestimmt waren, ins
Gefrierfach. Danach setzte er sich vor die Badezimmertür und wartete auf den
Moment, da die junge Frau, das Mädchen, wie auch immer, herauskommen würde. Es
würde, glaubte er, ein Moment von Aura und Bedeutung sein.

2
    Ekki saß im Nachtmar und wollte nicht nach Hause. Er hatte
keine lebenden Verwandten auf dieser Welt, und obgleich er sich wie in jedem
Jahr bemühte, Weihnachten so gut es ging zu ignorieren, gelang es ihm immer
weniger. Er hatte nie geheiratet noch wissentlich ein Kind gezeugt, seine
einzige Schwester war vor Monaten an Hautkrebs gestorben, mit dreiundfünfzig.
Er selbst war drei Jahre jünger und wenigstens bei guter Gesundheit. Er rief
sich das immer wieder in Erinnerung. Wenigstens bei guter Gesundheit. Ekki, der
frühpensionierte Lateinlehrer, wäre gerne in einen drei Tage dauernden
Tiefschlaf gefallen, bis Weihnachten endlich vorbei war. Die Einsamkeit wühlte
in seinem Körper, sie manifestierte sich als beinahe physischer Schmerz, als
würden winzige Fische mit messerscharfen Zähnen an seinen Muskeln nagen und aus
seinem Blut die rote Farbe trinken. So in etwa fühlte es sich an, aber er war
bei fast bester Gesundheit, zweifelsohne.
    Er hätte vielleicht, dachte er sich, wie tausendmal am Tag, gegen
die Zwangspensionierung aufbegehren sollen. Andererseits waren ihm die Schüler
ohnehin alle auf die Nerven gegangen, und letztlich mußte er sich froh
schätzen, relativ glimpflich aus jener Sache oder Situation oder Scheiße – wie
immer man es nennen wollte – herausgekommen zu sein. Er konnte die
Sache/Situation/Scheiße noch nicht einmal jemandem erzählen, das war das
Schlimmste, denn niemand kannte ihn so gut, um ganz sicher zu sein, daß Ekki
die Wahrheit sagte, daß er unschuldig war, daß er keiner Kreatur auf Erden je
ein Leid zugefügt hatte, wenigstens nicht bewußt. Aus der Jukebox heraus sang Bob Marley: I shot the sheriff, but I didn’t shoot no deputy . Ekkehard Nölten hatte weder
Sheriffs noch Deputys erschossen. Nix und niemanden. Aber im Leben, dachte er
sich, gibt es, anders als im alten Rom, keinen Mund der Wahrheit, der Lügnern
die Hand abreißt.
    Eine fiese kleine Göre von kaum dreizehn Jahren, die von ihm eine
Fünf verpaßt bekommen hatte, hatte gewisse Gerüchte über ihn gestreut, aus
Rache, weil sie jener völlig gerechtfertigten, eigentlich sogar noch zu milden
Fünf wegen eine Ehrenrunde drehen sollte.
    Widerliche, ganz widerliche Angelegenheit. Keine Beweise, nicht
einmal Anhaltspunkte für irgendeine Verfehlung gab es. Aber das Gör war sich
bewußt gewesen, noch nicht strafmündig zu sein. Sie konnte in aller Seelenruhe,
ohne Angst vor irgendeiner Konsequenz, alles behaupten, und Ekki, als Lehrer
untadelig, litt – das hatte damit an sich ja überhaupt nichts zu tun – unter
einem geringen, wirklich ganz geringen Alkoholproblem. Die Kollegen aus der
Lehrerschaft, diese Arschlöcher, waren sämtlich von ihm abgerückt – jener
brutale, unglaubliche Akt kollektiver Illoyalität traf ihn schwer. Bis dahin
hatte er zumindest vermutet, Freunde zu haben, wenngleich er konkret keine
Namen hätte nennen können. Eine absurde Komödie folgte. Der Schuldirektor
kehrte, in einem diplomatischen Husarenstück, die Sache unter den Teppich,
wurde mit den Eltern einig, das Gör bekam statt der Fünf eine Gnadenvier ins
Zeugnis, lachte sich in die Faust, während Ekki mit mehr oder minder verblümten
Worten gebeten wurde, sich lieber mal vom Acker zu machen. Die Schatten des
Vorgefallenen würden eine pädagogische Tätigkeit zu sehr belasten. Ach,
Scheiße.
    Aus Wut, einzig aus Wut über diese Niedertracht, über all die
Ekelhaftigkeit der Welt, hatte er sich gefügt. Fast ohne Widerstand zu leisten.
Die einzige gangbare Alternative wäre eine Strafversetzung gewesen. Dergleichen
hätte er nur als noch größere

Weitere Kostenlose Bücher